Was, wenn mir irgendwann nicht mal mehr Sterne das Gefühl geben lebendig zu sein?
VON MARINA //
„Ich bin süchtig danach mich so klein zu fühlen.“
Sie lässt sich auf ihren Schlafsack plumpsen während ich weiter mit angezogenen Beinen im Zelteingang friere. Die Härchen an meinen Armen und Beinen stellen sich auf und reiben an meiner Thermounterwäsche. Ich weiß was sie meint. Über uns hat der schwarz-lila Nachthimmel all das Blau des Tages ausradiert und in glühende Dunkelheit eingefärbt.
Darauf, wie ein fein gewebtes Netz, strahlen mindestens eine Million Sterne auf uns herunter. Wir sitzen in dem grünen Zelt, umgeben von porösem Steinboden und vereinzelten Grasflächen, die nass im Mondlicht schimmern. Das Zeltdach ist auf meiner Seite schon von den Windstößen eingedellt, doch ich bringe es nicht über mich den Eingang jetzt schon zu schließen. Ich weiß was Evana meint, aber ich widerspreche ihr trotzdem - wie immer.
„Klingt ganz schön ungesund.“
Schnaube ich und sie kichert nur.
„Ich fühle mich eher wie der König der Welt“
„Okay du Jack Dawson für Arme.“
Sie klingt immer noch belustigt aber ihre Augen fokussieren mich vor dem Sternenhimmel-Zelteingang mit verträumter Melancholie.
Ich denke an diesen Blick während ich in das ‚Space Shuttle‘ steige. All die Personen hier fühlen sich auch wie die König:innen der Welt, schließlich haben wir es geschafft. Umgeben von dem silbrigen Chrom, den durchsichtigen Fensterscheiben und sterilen Reisekabinen. Ich würde alles dafür geben nochmal den blauen Himmel über der Erde zu sehen, Gras unter meinen Füßen zu spüren und in einem Zelt unter dem Sternenhimmel zu schlafen. Die Realität holt mich jedes Mal ein, wenn ich aus meiner Kabine auf graue Böden und den schwarzen Himmel, der sich bis ins Unendliche erstreckt, schaue. Wie in einer ewigen Zeitschleife gefangen. Schlafen, arbeiten, aus dem Fenster starren und immer wieder weg von dem nächsten verdammten Planeten, der bald in Flammen aufgehen wird. Immer weiter bis zum nächsten Meteoriten-Einschlag, bis zum nächsten Unglück, Planet für Planet bis in die Unendlichkeiten des Universums. Genauso wie das Universum sich irgendwann von jetzt auf gleich ins Endlose erstreckt hat, scheint es sich um uns zusammenzuziehen. Mit jedem Planeten den wir entdecken und bewohnen wird es kleiner und wir größer. Ja, wir sind riesengroß in dem was wir erreicht habe. Bezwinger des Universums hat ein Kollege es neulich genannt. Wir haben es geschafft, aber was genau „es“ ist, kann mir niemand sagen.
„Jetzt mal ehrlich, was zur Hölle willst du damit sagen – süchtig danach sich klein zu fühlen?“ Ich lasse mich ebenfalls ins Zelt zurückfallen und reibe mir meine Arme.
Meine Finger sind von der kalten Nachtluft ganz steif und meine Augen schon müde vom Tag. Ich mustere sie provozierend und warte auf ihre Antwort.
„Okay – aber du hörst zu und schläfst nicht direkt wieder ein?“
Ich hebe grinsend meine Hand zum Schwur.
„Wenn ich dich auch nur kurz schnarchen höre…“
Ich täusche an mich auf sie zu stürzen und rolle mich dann doch zurück in meinen Schlafsack.
„Komm zum Punkt!“, grummele ich und schließe meine Augen.
Warte darauf, dass sie ihre Worte sammelt.
Evana ist so verdammt gut darin Worte zu sammeln und Menschen wie mich, die nicht zuhören können, immer widersprechen und dann schlussendlich ihrem Zauber erliegen. Wenn sie nach etwas süchtig ist dann wohl eher danach, denke ich mir.
„Wenn ich all diese Sterne ansehe dann fühle ich mich klein und unbedeutend. Und das bedeutet auch, dass meine Sorgen klein und unbedeutend sind.“
Sie zögert, doch dann fährt sie fort.
„Also zum Beispiel, wenn mich jemand nicht liebt dann ist das halb so schlimm, weil die Person sitzt genauso wie ich unter diesem Sternenhimmel, unter genau den selben Sternen und ist genauso unbedeutend wie ich. Das finde ich erleichternd. So eine Art Freibrief nichts sein zu müssen. Ich kann einfach die Sterne ansehen und träumen. Von Magie, von anderen Orten und Planeten, von einem anderen Leben.“
Ich denke an Evanas Worte während das ‚Space Shuttle‘ startet. Ich kann die Planeten nicht mehr zählen auf denen ich gelebt habe. Es ist ein ewig frustrierender Kreislauf: Möglichkeiten zum Überleben finden, ein lebenswertes Leben schaffen in sich ständig ändernden Rahmenbedingungen. Schon viel zu oft habe ich gedacht, wir hätten den Kampf verloren aber wir Menschen sind widerstandsfähiger als ich es je für möglich gehalten hätte. Wie Kakerlaken im Universum leben wir weiter. Und wenn wir scheitern ziehen wir weiter. Ich sehe die Sterne an und jeder einzelne ist ein Problem, das ich lösen muss. Jede Person, die es bis hierhin geschafft hat, hat eine essenzielle Rolle im Fortbestand der Menschheit. Der Druck im Raum steigt durch den Shuttle-Start, bis mir fast die Luft wegbleibt.
„Aber ist es nicht verdammt deprimierend immer nur zu träumen und ‚nur nichts‘ zu sein?“ hatte ich damals erwidert.
„Ich finde es befreiend. Weißt du noch der Typ mit dem ich letztes Jahr geschrieben habe?“
Ich verrolle die Augen, erinnere mich nur zu gut.
„Ich war so aufgeregt bei jeder Nachricht die er mir geschrieben hat. Ich hab ihn mir vorgestellt und mit jedem Telefonat war ich überzeugter, das mit ihm alle meine Träume von einer Beziehung wahr werden. Und dann haben wir uns getroffen und es war einfach nur scheiße. Aus der Traum, keinerlei Magie.“
Ich spare mir ihr zu sagen, dass das jedem mal so geht, dass das zum Leben dazugehört. Sie ist noch nicht fertig und ich will nicht belehrend klingen.
„Ich habe keine Lust mehr ständig meinen Träumen nachzujagen und zu versuchen, dass mein Leben tatsächlich so magisch wird, wie ich es mir vorstelle. Wenn ich einfach nur hier sitze und die Sterne anschaue und dabei träume bin ich glücklich. Und weil ich so klein und unbedeutend bin, ist das okay. Es macht keinen Unterschied, verstehst du. Statt immer zu denken, dass es besser werden könnte und schließlich enttäuscht zu werden, kann ich viel zufriedener sein, wenn ich mir einfach vorstelle, was noch alles passiert, was alles noch da draußen ist. Die Geschichten die auf mich auf all diesen Sternen, an allen Tagen die noch folgen, warten. Wenn ich aber mich groß und bedeutend mache, dann bin ich verpflichtet dafür zu sorgen, dass mein Leben funktioniert. Mit viel Glück bedeutet das eine durchschnittliche Beziehung, in einem durchschnittlichen Job, mit Freunden die man zu selten sieht und während man sich abmüht zu überleben und für den nächsten Urlaub zu sparen, immer mehr und besser zu werden, zieht das Leben an einem vorbei und bumm – schon ist man tot.“
In meinem Kopf höre ich ihre Worte und sehe wie ihre Augen dabei glänzen. Damals wollte ich sie einfach nur schütteln. So realitätsfern kann doch niemand sein, hatte ich mir gedacht. Als ob es jemals eine Lösung wäre sich unter die Sterne zu setzen und zu träumen. Es fühlt sich nach Aufgeben an, passiv darauf zu warten, dass alles in Ordnung kommt. Sie hätte leben können, stattdessen bevorzugte sie die Welt in ihrem Kopf. Tränen bahnen sich ihren Weg durch meine Wimpern und rollen langsam über meine Nase. Sie prallen auf meinen Mund auf „…und bumm – schon ist man tot“. Der Satz hallt in meinem Kopf, immer und immer wieder. Es war erschreckend die Erde von oben explodieren zu sehen. Orange-gelb glühend bis die Dunkelheit des Weltalls alles verschluckte. Es war ehrfurchterregend. Ich weiß nicht mal, ob Evana es geschafft hat.
„Und du meinst, wenn du gar nichts tust und einfach nur die Sterne anschaust, passiert das nicht?“
„Wer nicht sucht, der wird auch nicht enttäuscht und wieso suchen, wenn ich doch schon alles in meinem Kopf habe.“
Ihre Stimme klingt genervt, so als würde sie es bereuen überhaupt davon angefangen zu haben. Im Dunkeln sehe ich nur noch ihre zerzausten Locken und den leichten Sonnenbrand auf ihrer Nase aufblitzen. Ihre Arme liegen mittlerweile verschränkt vor ihrer Brust, während sie stoisch aus dem Zelteingang starrt.
„Aber es existiert alles nicht, es ist nichts Echtes.“
Langsam werde ich wütend.
„Dann kannst du dich doch gleich begraben. Wofür leben wir denn, wenn wir es nicht wenigstens versuchen. Und woher willst du überhaupt wissen, dass du unbedeutend bist. Würden alle so denken, dann gäbe es die Menschen schon lange nicht mehr. Jede noch so kleine Handlung kann große Konsequenzen haben. Ich…ich verstehe ich dich einfach nicht.“ Frustriert fuhr ich mir durch die Haare. In meiner Welt wollte ich Dinge begreifen und mich bedeutend fühlen, weil ich sie begriff.
Zu versuchen Evana damals noch zu verstehen war so als würde mir der Schlüssel zu etwas fehlen. Manchmal habe ich immer noch das Gefühl, dass wenn ich nur diesen verdammten Schlüssel hätte, könnte ich frei sein. Frei davon ich selbst zu sein, gefangen in einer Welt, in der ich alles begreife, aber nicht sein will. Das Fenster neben meiner Kabine ist mit Staub überzogen und legt einen grauen Filter über mein Blickfeld. Ich könnte mich ablenken, schließlich findet man genug Zerstreuung, dafür haben sie gesorgt. Doch heute ist das Gefühl an der Leere zu ersticken so groß, dass ich einfach sitzen bleibe und ins Grau starre.
„Ich bin glücklich.“
Sie wirkt abwehrend, will nicht gegen meine Rage ankämpfen müssen.
„Wenn ich die Sterne ansehe, bin ich bis in alle Tiefen zufrieden. Ich habe einfach das Gefühl, dass wenn man nach all diesen Dingen sucht und strebt, wird man nie glücklich, denn es könnte immer irgendwo anders besser sein, es könnte immer mit jemand anderem schöner sein. Ich fühle mich aufgehoben, wenn mir der Anblick der Sterne genügt. Ich brauche nicht mehr. Ich muss nicht mehr sein und ich will mich nicht abmühen, um immer und immer wieder anzukommen und enttäuscht zu sein, weil die Realität nie mit meinen Träumen mithalten kann. Mich zu sehnen erfüllt mich mehr als ständig dafür zu arbeiten, glücklich zu bleiben – ohne Garantie darauf, dass meine Arbeit sich auch auszahlt.“
Ich merke wie ihre Stimme zittert, bestimmt hat sie schon Tränen in den Augen. Sie glaubt sich selbst nicht mehr ganz.
Der Meteorit war damals schon entdeckt worden. Frühzeitig genug, damit die Regierung Zeit hatte, die Notfall-Pläne zu aktivieren. Es war unsere letzte gemeinsame Reise. Nach diesem Abend hatten wir immer wieder gestritten, uns weiter im Kreis gedreht. Unzählige Male hatte ich ihr erklärt, dass das ‚Space Shuttle‘ die einzige Möglichkeit sei. Wie wichtig es wäre, seinen Teil beizutragen und dafür zu kämpfen glücklich zu sein, egal wo, egal unter welchen Umständen. Ich war jung, hungrig darauf zu verstehen was mich in den unendlichen Tiefen des Universums erwarten würde. Also fuhr ich zurück nach Deutschland und hatte sie zurückgelassen. Allein mit dem grünen Zelt und allein mit ihren Sternen.
„Nemo?“
Es war nur ein Flüstern gewesen.
„Was, wenn mir irgendwann nicht mal mehr Sterne das Gefühl geben lebendig zu sein?“ Keinen Ton konnte ich hervorbringen. Stattdessen streckte ich meine kalte Hand aus zu der anderen Seite des Zeltes, wo sie sie ergriff. Der Wind kroch eisig in den leeren Raum zwischen unseren Schlafsäcken, doch ich ließ dich nicht los. Es spielte keine Rolle mehr, wir waren so klein.
Ich erinnere mich an deine Frage. Jeden Tag. Ich wünsche mir so sehr für dich, dass du es nie erleben musstest. In irgendeinem Buch habe ich gelesen, dass wenn Sterne sterben man noch tausende Jahre später ihr Licht sieht, obwohl die Quelle schon längst erloschen ist. Irgendwo zwischen hier, wo das Sternenlicht auf mich strahlt und da, wo es schon gestorben ist, lebst du noch in einem Zeitraum.
Als es noch grünes Gras gab, als es dich noch gibt. Und so schaue ich jeden Tag raus zu den Sternen, die in ihrer Zeit schon längst erloschen sind. Gleichzeitig liege ich mit dir dort, wo die Sterne noch gestrahlt haben, in einem grünen Zelt und schaue in den Himmel. Ein Teil von mir hier und ein Teil von mir dort. Mehr als zwei kalte Arme die aneinander festhalten. Mehr als einfach nur lebendig - riesengroß und unendlich klein zugleich.
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