top of page
Suche

Tango


Irgendetwas war verrückt worden, wahrscheinlich er. Die innere Stimme stimmte nicht mehr, sie stimmte in ein Lied ein, stimmte herrisch Schritt, Schritt, Wie-ge, Schritt an und er ließ sich verrücken und tanzte. Die ersten fremdbestimmten Schritte waren aufregend gewesen und neu, die späten bloß noch beschämend. Aber die Musik spielte weiter und so rückte er vor und zurück und solange er noch verrückt wurde, solange er noch tanzte, solange hatte niemand gewonnen und niemand jemanden verloren. Aufregung und Scham zerrten einander an den Haaren vor der Jurorin herum, mal führte die eine, mal der andere, und so hätte es ewig gehen können. Zuletzt aber verklang die Musik, es drehte allein sich die Scham auf dem Parkett und der Absatz am geliehenen Lackschuh malte reuevoll Halbkreise auf den Tanzboden.


Das Grau in der Höhe sparte nicht mit Wasser, in den Pfützen spiegelte aufreizend sich der aufreißende Himmel. Hier unten hatte ein defekter Motor Regenbögen aus fortgelaufenem Benzin daran festgeklebt, oben aber war er bloß grau und darin golden geadert wie Marmor. Die Pfütze erfand Märchen über den Himmel und der Besucher trat hinein, bevor der Regen Und wenn sie nicht gestorben sind plätschern konnte. Mit den Händen in tiefen Taschen hielt er vor dem nackten Leib einen Trenchcoat zusammen, dem der Gürtel abhanden gekommen war. Durch ein Loch auf der Unterseite des Schuhs drang Regenwasser in den Strumpf, denn er litt an einem Spreizfuß, der in krimineller Verbrüderung mit dem Asphalt Sohlen nach wenigen Wochen an immer derselben Stelle zuverlässig zermalmt hatte. Wenn das passierte, kroch an regnerischen Tagen bald ein Geruch wie ein trockener Abfluss aus dem feuchten Schimmel der maroden Sohle nach oben. Zu seinem Glück verstopfte nun eine Nebenwirkung der Pille ihm die Nase und der Gestank biss sich daran die Zähne aus.


Der Besucher huschte an Laternen vorbei und riss sich beinahe an den abstehenden Speichen eines im Regen vergessenen Rads die nackte Wade kaputt. Seine Augen waren abgelenkt, tasteten in Hauseingängen und über Briefkästen in Hast und Ungeduld nach einer Zahl, die er eben noch in Kugelschreiberblau auf dem Handrücken Spazieren getragen hatte. Nun hatte der Regen sie geholt. Er fand die 36 dennoch zuerst in seinem Gedächtnis und dann auf einer Tafel aus gebranntem Ton unter geschwungenen Lettern wieder, die Hier wohnt Familie Heinz verkündeten. Schmal schob er sich durch einen Spalt im trotzdem quietschenden Vorgartentor und schaffte es mit zwei kiesknirschenden Schritten unter die Überdachung eines Treppchens zur Haustür, links und rechts gesäumt von Wildtieren aus lackierter Keramik. Im rechten Schuh schmatzte der Strumpf.


Ein Schatten, der gebadet und parfümiert hinter zwei sterbenden Orchideen am Fenster gewartet hatte, kam der Klingel zuvor. Dumpf hallten Pantoffelschritte heran. Fliesen, vermutete der Besucher. Schon der Silhouette hinter dem Milchglas der Haustür sah man die fünfzig Pfund an, die seit der Aufnahme der Fotografie im Internetprofil addiert worden waren. Der Besucher presste seine Fußballen in den Treppenstein, als ein Rest Selbstachtung ihn an seinem Becken packen und fortziehen wollte. Wie-ge Schritt, pochte rhythmisch eine vertraute Frauenstimme von innen an seine Schläfen.

"Daniel?"


Die fremde Stimme kam zwischen einsamen Stümpfen hindurchgepfiffen wie der Wind durch die trostlose Flora der Tundra. Der karge dentale Wuchs wollte sich zwischen Furcht und Freude nicht entscheiden und blieb hilflos grimassierend im Türspalt stecken. Die Lippen bebten ihm dazu farblos wie der sterbende Leib einer Robbe, der man das Fell abgezogen hatte, ohne sie vorher ordnungsgemäß totzuhauen.

Der Besucher nahm zur Antwort bloß die Hände aus den Taschen. Die von der Nässe schweren Stoffbahnen des Trenchcoats teilten sich und entblößten nackte Haut, grau von der Kälte zwar, aber fest und warm an den richtigen Stellen.

"Komm rein", wehte der Tundrawind eilig. "Und mach den Mantel zu. Wenn dich einer sieht...!"


"Verheiratet?", wollte der Gast im Eintreten wissen. Den Verwesungsgeruch verlor er mit den Schuhen zwischen den staubigen Blättern von Gummibäumen im Flur. "Nein, wohne mit meiner Mutter".

Die zartfühlende Vorsicht, mit der die Haustür ins Schloss gezogen wurde, lieferte dem Besucher eine Ahnung von der Natur dieser Hausgemeinschaft. Weitere Antworten ersparte er sich gerne und fragte nicht weiter nach.


"Da lang", hauchte es aus dem Permafrost und der nasse Strumpf am rechten Fuß hinterließ mit jedem zweiten Schritt einen Abdruck auf den kalten Fliesen des langen Flurs. Feucht zeichnete er ein Muster wie die Anleitung zum Tango in einer Illustrierten für Hausfrauen aus den Nachkriegsjahren. Zwischen den Tanzschritten am Boden und der niedrigen Holzdecke roch es nach Katzenhaar und Kaffee, irgendwo brabbelte eine Moderatorin im melodischen Gesang des Privatfernsehens, bis eine Tür still ins Schloss klackte und sie zum Schweigen brachte. Der Bewohner drehte einen Schlüssel herum. “Meine Mutter kommt manchmal ohne Klopfen herein”, erklärte er leise den in die Höhe gewanderten Brauen des anderen.


"Machst du das öfter? Ich bin übrigens Thomas", flüsterte er weiter.

"Setz dich da hin!", übernahm die Ungeduld des Besuchers, der mit der ganzen Länge des Armes auf einen beigen Sessel aus rauem Teppichmaterial deutete, sodass ihm der Trenchcoat von den Schultern in die Armbeuge fiel. Die fremden Augen verirrten sich in dem schwarzen Flaum, den sie im Schatten der freigewordenen Achsel vermuteten. Aus einer Manteltasche holte der Entblößte inzwischen sein Mobiltelefon, kalte Finger wischten Regen vom Display und wischten weiter, betätigten einen Knopf an der Seite, bevor sie es dem Gastgeber vorsichtig übergaben wie der Zeremonienmeister eines sakralen Rituals ein gesegnetes Relikt.

"Drück den roten Knopf in der Mitte. Film nur mich, von dir reicht der Schwanz." Schweigen kroch über die eisigen Kacheln. Zwei Uhren, verborgen im Nippes einer Schrankvitrine, tickten taktlos um die Wette.

"Muss das sein?", wehrte sich schließlich das dünne Stimmchen, und rosafarbene Finger drehten unbeholfen das Display.

"Ich kann auch wieder gehen", antwortete der andere tonlos.

"Nein, schon gut. Kamera läuft."


Dem Mundraum des Besuchers fehlte es nicht an Technik. Er hatte gelernt, wann die Hand unterstützen durfte und wann sie störte, verstand, die Zähne fern und die Zunge flexibel zu halten. Den Brechreiz unterdrückte er zwar mühelos, bedeutete jedoch mit imposantem Würgen und einem dankbaren Blick aus geröteten Augen bei diversen Gelegenheiten, dass der leicht gekrümmte mitteleuropäische Durchschnittspenis seines Gegenübers das prächtigste Exemplar war, mit dem er es je zu tun gehabt hatte. Der Gastgeber ejakuliere geräuschlos, lange bevor der Kiefer Ermüdung signalisierte.

Als der Bediente im Sessel das Telefon zur Seite legen wollte, griff der Besucher sein Handgelenk und zwang ihn, die Kamera weiter auf sein Gesicht zu richten. Mit den Fingern der zweiten Hand schob er, was im Bart gelandet war, in den Mund. Er schluckte hörbar und zeigte der Kamera seinen leeren Rachen, hob auch die Zunge und streckte sie heraus. Der Gastgeber beobachtete das Schauspiel nicht frei von Faszination im Display, bis der andere ihm das Mobiltelefon aus den rosafarbenen Fingern nahm, die Aufnahme beendete und sich erhob, so schnell die eingeschlafene rechte Wade ihm erlaubte.


"Danke", hauchte es erschöpft aus dem Sessel.

"Ich muss los", verbot der andere sich einen zugeneigten Tonfall und griff eilends den Mantel vom Boden. Die Fußabdrücke auf den Fliesen waren getrocknet. “Willst du nicht auch?” Der Blick des Gastgebers haftete am Schritt seines Gegenübers wie eine Fliege an der Klebefalle. Weinrot glänzend hatte dort eine Eichel sich am Ende einer zähen Erektion durch die Öffnung des Trenchcoats geschoben.

“Nein”, lehnte der Besucher ab und verfluchte die Pille, die er ohne Wasser und gegen seinen Willen beim Verlassen des Hauses geschluckt hatte. Wann würde er endlich lernen, Nein zu sagen?


Draußen war die Marmorierung des Himmels aufgebrochen, das Katzengold der Herbstsonne kroch faul über den ausgekühlten Asphalt und schlürfte betrunken Reste aus dreckigen Pfützen. Nahe eines vergessenen Fahrrads erinnerte ein matter Benzinfilm auf dem trocknenden Boden an Märchen über Regenbögen, die auf dem Hinweg erzählt worden waren.

Als Christian in ihrer Wohnung ankam, ließ er seinen Schlüssel und den Trenchcoat im Flur fallen, noch bevor der schwere Flügel der Wohnungstür Zeit hatte, krachend hinter ihm ins Schloss zu fallen. Die Schuhe warf er ab und schabte sich den nassen Strumpf vom Fuß wie ein Pilzbefallener sich die Haut vom Fleisch kratzt. Er schleppte seinen Ekel ins Badezimmer und der Wasserstrahl der Dusche rauschte viel zu hart und viel zu heiß an den Kacheln der Badezimmerwand. Dampf kroch aus dem Türspalt in den Flur.


Er spürte, dass sie das Bad betreten hatte, lange bevor er sie sah.

“Thomas hat dir geschrieben.”, teilte ihre Stimme ohne Mühe das Rauschen des Wasserstrahls. Als ihr Umriss sich grau im Nebel näherte, drehte er den Hahn zu. “Lieber Daniel. Würde das gern wiederholen”, las sie vor und Christian erkannte hinter den weißen Schwaden sein Mobiltelefon in ihrer Hand, “Passt dir Dienstag? Da ist meine Mutter bei der Krankengymnastik”. Sein Puls legte sich treibend unter die Vieldeutigkeit ihres leisen Lachens. “Was soll ich ihm antworten?”, setzte sie nach.

Christian sprach nicht, seine Lippen wurden schmal wie der Schlussstrich, den er vor Langem hatte ziehen wollen, Wassertropfen perlten mühelos über krampfende Muskeln. Nun drang blechern eine neue Stimme an sein Ohr. Sie kam aus dem Lautsprecher des Telefons in ihren Händen. Muss das sein?, fragte da einer. Ich kann auch wieder gehen, erkannte er seine eigenen Worte, dann Röcheln, Schmatzen, Würgen. Im Nebel suchte er nach Zufriedenheit oder Anerkennung in ihren Augen und fand dort bloß ein Blitzen, vielleicht die Spiegelung dessen, was sie auf dem Display sah. Immer wieder wischte sie

Kondenswasser von der Schutzfolie und sah das Video zu Ende an, während ihm die Scham aus den Poren dampfte.

Sie legte das Telefon auf dem Waschtisch ab und verließ schweigend das Badezimmer. Er saugte mit Hast feuchte Luft in seine Lungen, doch ließ sie ihn nicht lange in der Dunstwolke seiner Anspannung alleine, sondern kam Sekunden später mit ihrer Handtasche zurück. Die Tür zum Flur schloss sie nicht, sodass sich die Sicht endlich klärte. Er sah sie stumm in der Tasche kramen, ihre Geldbörse finden und daraus einen Fünfziger auseinanderfalten.


“Nein.” Christian hatte seine Stimme gefunden und Wasserperlen kitzelten seine Kniekehle, machten es schwer, stehen zu bleiben. “Zum hundertsten Mal, ich will dafür kein Geld. Ich will bloß, dass du zufrieden...dass Sie zufrieden mit mir sind, Herrin. Wenn Ihnen das gefällt, mache ich das...gerne für Sie. Ich will Ihnen eine Freude-”

“Nutten bezahlt man”, unterbrach sie tonlos und legte den Schein neben dem Mobiltelefon ab. “Außerdem brauchst du dringend neue Schuhe. Die im Flur stinken wie der Arsch eines Esels.”

Tief in ihm wollte eine ferne Stimme verzweifelt aufbegehren, aber ein anderer Drang, vielleicht von der sanften Gewalt in ihrer Stimme gelockt, vielleicht auch bloß von den Resten der Pille in seinem Magen, hatte ihm schon das Blut in den Unterleib geschossen. Der Widerspruch verhallte, als sein Penis sich zuckend erneut aufrichtete. Am Waschtisch schlüpfte sie aus ihren Hausschuhen und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. “Also, was soll ich Thomas antworten? Passt dir Dienstag?”


Die Musik war nicht verklungen, sie hatte bloß pausiert. Nun donnerte sie aus den Lautsprechern und mit ihr donnerte Lack klackernd über den Tanzboden. Die Jurorin lachte, als die Aufregung wie ein Matador zurück aufs Parkett marschiert kam. Dort griff sie die Scham bei den Hörnern wie einen Stier, packte sie, die noch einsam wirbelte, und hielt ihre mürben Finger fest in der Hand wie ein Würgender den zerbrechlichen Hals. Die Scham legte den Kopf in den Nacken und ihr Seufzen verklang in den Höhen der Musik. Sie erinnerte sich: Schritt, Schritt, Wie-ge, Schritt, und schon wurde sie verrückt vor wachsendem Verzücken, schon ließ sie sich gebändigt und wachsweich auf verstellte Weichen stellen. Ein letzter Tango noch, belog sie sich selbst. Ein letzter Tango.




3 Kommentare

3 Comments


Alex
Alex
Dec 12, 2020

Liebe auch sehr den Plottwist am Ende. Liebe fast noch mehr diese Kälte-Bilder, die du zeichnest, die Tundra, den Permafrost, die unangenehm nassen Socken. Das ist so wundervoll verbildlicht und irgendwie bestechend präzise gleichermaßen. Ein toller Text einfach

Like

Marina
Marina
Dec 10, 2020

Holy Moly dieser Plottwist einfach der Wahnsinn! Du weißt ich liebe deine Texte und niemand beschreibt so bildlich, lebhaft, zielgenau ins Herz (und den Magen der nasse Strümpfe furchtbar findet) wie du!

Like

Sebastian
Sebastian
Dec 01, 2020

Eine Geschichte, deren Auflösung nur offene Kinnläden und staunende Blicke hinterlässt. Pierre, du weißt, dass ich mag, was du schreibst. Aber umso mehr mag ich, wie du mit der Verknappung von Worten umzugehen weißt. Deine Schreibe ist so herrlich dicht und doch verästelt sich nichts ins Unnötige. Jedes Detail, jedes noch so dargestellte Bild ist dienlich und sitzt einfach verdammt gut. Unter tausenden würde ich deinen Stil wiedererkennen und das ist schwer was wert. Tango entführt in eine obskure Welt, zu einem Protagonisten, der das Nein nur denken, aber nicht ausleben kann und sich darin ergeht, von jemand anderen vorgelebt zu werden. Was für eine herrliche Lebenslüge, was für eine Vorführung.

Like
bottom of page