top of page
Suche

Skinny Dipping

VON EMIL FADEL //

Jeden Tag, wenn ich die Treppe von der U-Bahn-Station nach oben nehme, ist das erste, was in mein Blickfeld kommt, die Litfaßsäule neben dem Zeitungskiosk. Beide wirken wie Relikte aus einer längst in Vergessenheit geratenen Epoche, vor allem der Kiosk mit seinen Reklameschildern und den Haufen von Tageszeitungen, von denen die meisten aus mir nicht ganz nachvollziehbaren Gründen immer noch Frakturschrift für ihre Kopfzeilen benutzen, mit seinem alten und leicht verwelkten Besitzer, der Kette raucht und mir trotzdem bei jedem Päckchen, das er mir verkauft eine Predigt darüber hält, dass ich mit dem Scheiß doch gar nicht erst anfangen sollte, so jung wie ich doch bin. Ich kaufe trotzdem gerne bei ihm, er gibt mir ein wenig das Gefühl, das ich früher immer verspürt habe, wenn ich mir beim Bäcker von meinem Taschengeld saure Schlangen, Schlümpfe und andere Schweinereien gekauft habe, und dafür auch jedes Mal von der Bäckersfrau gerügt wurde, obwohl sie doch diejenige war, die das Zeug verkaufte und auch eindeutig an eine Zielkundschaft wie mich.


Die Litfaßsäule daneben ist ebenso aus der Zeit gefallen, im Grunde sind Litfaßsäulen das ja sowieso, Relikte neben den LCD-Displays und Videotafeln, in der Regel auch nur noch sehr stiefmütterlich gepflegt und es werben auch immer dieselben Verdächtigen darauf. Das städtische Theater beispielsweise, ebenso ein paar andere Kleinkunst-Bühnen, die in der Regel im Wechsel irgendwie auch alle dasselbe spielen. Hin und wieder Literaturveranstaltungen, aber die sind inzwischen so selten geworden, dass ich mich schon gar nicht mehr erinnern kann, wann ich das letzte Mal eine gesehen habe. Was hingegen wieder zugenommen hat, sind die Poster, die für Party-Veranstaltungen werben. Ü30-Parties (die ich, wie ich mit Entsetzen feststelle, nun auch ganz legitim besuchen kann), Reggae-Nights, Apres-Ski, Wiesn-Gaudi und was man sich sonst so alles ausdenken kann, man-made horrors beyond your comprehension. Aber es gibt eine Art von Veranstaltung, die hin und wieder auf der Litfaßsäule neben dem Zeitungskiosk beworben wird, und bei der es mir kälter den Rücken hinunterläuft als bei allen anderen. In großen, sperrgedruckten Lettern mit so einem metallic-Gold-Effekt schreit es mich an, wenn ich die letzten Stufen der Treppe von der U-Bahn-Station hinaufkomme:


TROPICAL FIESTA POOL PARTY

MAREBLU-SCHWIMMBAD

EINLASS 18:00 FSK 16


Um zu erklären, warum dieser Anblick mir zusetzt, müssen wir uns ein wenig auf die Reise durch die Zeit begeben, ins Jahr 2008, um präzise zu sein. Das war generell eine ziemlich komische Phase – ein Vakuum, wie es die Jahre nach dem Elften September und der Schockwelle, die er verursacht hatte, generell alle waren. Die Welt war im Umbruch und irgendwie spürten wir das alle schon, aber die Katastrophen von heute waren noch nicht konkret zu erahnen. The Day after Tomorrow war noch ein fiktionales Szenario, George W. Bush war (noch) der schlimmste Präsident, der Amerika jemals regieren sollte und An Inconvenient Truth galt als prophetisch. Und genau in dieser Zeit verlebte ich meinen Lebensabschnitt als Teenager. Das ist in der Regel ja schon an und für sich schlimm genug, aber in diesen Jahren war es die Hölle, wie Dante sie nicht deutlicher erleben hätte können, wenn er vor dem siebten Kreis noch einen ganzen Tab LSD geschmissen hätte. Wer heute davon spricht, dass junge Menschen von Social Media und Influencern ein falsches Selbstbild erfahren, der ist eindeutig nicht in den 2000ern aufgewachsen. Zwischen Britney Spears, die in Fernseh-Interviews für ihren Bauch-Ansatz lächerlich gemacht wurde (wenige Monate, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, sollte man anmerken), Heidi Klum, über die man dieser Stelle nichts mehr schreiben muss, weil sie heute ja immer noch dasselbe tut, und zahlreichen Jugend- und Style-Magazinen wie der Bravo, nach denen man sich, wenn man beispielsweise Mundgeruch hatte, auch genauso gut einfach gleich umbringen könnte, wuchsen wir zu der wahrscheinlich konformistischsten Generation seit langem heran. Alles was anders war, sollte tunlichst vermieden werden und am besten war es, wenn man gar nicht groß herausstach, aus dem Meer aus low-waist-Jeans und George-Gina-and-Lucy-Taschen. Gleichzeitig wurde einem das eigene Anders-Sein tagtäglich vor Augen gehalten, denn schließlich war das der stärkste Motivator, doch endlich das neue Axe-Bodyspray zu kaufen, damit man nicht mehr so elendig stinkt und stattdessen zum Magnet für das andere Geschlecht mutiert. Zumindest ist das heute meine rückblickende Betrachtung, damals unmittelbar war es vor allem der Motivator Essstörungen, Selbstverletzungen und ein Ausmaß an Mobbing, dass eine durchschnittliche Gossip Girl-Folge dagegen aussah wie ein Laientheaterstück der evangelischen Jugend. 


Und der absolute Gipfel dieses Elends waren die Parties, und damit meine ich natürlich nicht die privaten Geburtstags- oder Hausparties, bei denen man nach einem halben Dutzend Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat und eineinhalb Flaschen Berentzen Grüner Apfel in das Geranienbeet der Gastgebermutter kotzte, sondern die kommerziell ausgerichteten Feiern in den Clubs und Discos – und hin und wieder eben auch im Schwimmbad. Ich kann mich noch einigermaßen gut erinnern, in welchem Zusammenhang ich zum ersten Mal von einer solchen Pool Party erfuhr, ich muss ziemlich genau fünfzehn gewesen sein, es war noch früh im Jahr, Februar vielleicht, denn an der Bushaltestelle, an der wir standen und verstohlen Zigaretten pafften, lag noch Schnee. Hinter dem schmierigen Plexiglas der Bushaltestellenwand hing ein Plakat, das genauso gut auch an der Litfaßsäule neben dem Zeitungskiosk hängen hätte können, mit großen, goldenen Lettern und derselben Art von Foto, das total euphorische Menschen in Badebekleidung zeigte, die im aufspritzenden Poolwasser auf- und abzuspringen schienen und die aus mir unerfindlichen Gründen alle Sonnenbrillen trugen. Malte war der erste, der es bemerkte, er zeigte darauf und sagte, was wir alle in dieser Situation gesagt hätten: „Geil.“ Für mehr Beobachtungen war keine Zeit mehr, die Glocke läutete und wir mussten uns mit den Massen unserer Mitschüler durch von der Heizungsluft und der Feuchtigkeit von draußen diesigen Gängen zurück in unser Klassenzimmer kämpfen, eilig eine Handvoll TicTac Orange kauend, um den Rauchgeruch zu übertünchen. Bereits beim Hinsetzen hatte ich das Plakat und die darauf angekündigte Pool Party schon wieder vergessen. Trotzdem kam das Thema schnell wieder auf, getuschelt auf dem Pausenhof, in Form von Gerüchten, die über den Hartplastik-Tabletts voller furchtbarem Mensa-Essen ausgetauscht wurden, wer mit wem auf die Pool-Party gehen würde und schließlich dann, ein paar Tage später– ich saß am Computer, so wie immer, hörte Musik und schrieb mit einigen Freunden über ICQ – ploppte auf einmal eine Nachricht auf, begleitet von dem charakteristischen „Ah-Oooh“-Sound, der sich bis heute in meine Psyche eingebrannt hat. Die Nachricht war von einem Mädchen aus meiner Klasse, mit der ich nicht sonderlich viel zu tun hatte, und es war auch schon in der ersten Zeile klar, dass es sich um einen kopierten Text handelte, den sie wahrscheinlich an alle Kontakte in ihrer Liste geschickt hatte:

Pool-Partyyyyy! :)))))

Hey duuuu, wie du vielleicht schon mitbekommen hast,

ist diesen Freitag eine Poolparty im alten Hallenbad… wir gehen alle hin 

und wir fänden es ends gut, wenn du auch kommen würdest!!!!1

P.S: Jannis reserviert einen Spot im Whirlpool, 

wenn wir alle früh genug da sind, gehört das Becken der 9b allein _____


Beim Lesen hielt sich meine Begeisterung durchaus in Grenzen, ich war nicht gerade der Beliebteste in der Klasse und somit war mir schon relativ klar, dass ich eher ein Kollateralschaden des Kettenbrief-Versands gewesen war und nicht konkret auf der Party erwünscht. Jannis war zudem ein Arschloch aus reichem Hause, der mich und die anderen Außenseiter von der Bushaltestelle stets auf dem Kiecker hatte… die Aussicht, mit ihm in den von ihm reservierten „Whirlpool“ (der im Übrigen das Massagebecken für ältere Leute war) zu steigen, erfüllte mich nicht gerade mit Euphorie. Dennoch kristallisierte es sich bereits in den darauffolgenden Stunden und den Chats, die ich mit Freunden und Bekannten führte, heraus, dass wahrscheinlich kein Weg an der Pool Party vorbeiführen würde: Jede und jeder ging hin, sogar Joachim, den sonst kein soziales Event von World of Warcraft loseisen konnte – und Paula.


Paula war eine sehr gute Freundin von mir und das lustigste Mädchen der Welt. Sie war auch, was man heute wahrscheinlich als „thicc“ bezeichnen würde und 2007 war das ein Todesurteil, da nannte Paula niemand „thicc“, sondern sie war durchgängig nur „die Fette“. Sie tat immer so, als würde ihr das nichts ausmachen, aber in einsameren Momenten ließ sie doch durchblicken, dass sie das nicht kalt ließ. Dann weinte sie bittere Tränen und verfluchte ihren Körper. Ich versuchte sie in solchen Situationen immer zu trösten, aber mein Repertoire war damals doch sehr begrenzt und so saß ich dann doch in den meisten Fällen einfach schweigend daneben und streichelte ihre Schulter, bis sie sich beruhigte. Umso mehr verwunderte es mich nun, dass sie unbedingt zu dieser Pool Party gehen wollte, aber sie war fest entschlossen.


Es herrschte eine seltsam überdreht-euphorische Stimmung, als wir uns vor dem Hallenbad versammelten, uns durch den Einlass drängten – natürlich war keiner von uns die notwendigen sechzehn Jahre alt, aber ein paar gefälschte Ausweise und das generelle Desinteresse der von irgendeiner Sicherheitsfirma abgestellten Türsteher sorgten dafür, dass wir als Pulk passieren durften. Drinnen war es bereits unglaublich stickig und es wummerten die Basslines zu Katy Perry’s I kissed a girl, bereits aus der Entfernung ein düsterer Vorbote dafür, was für eine Sorte von Party das werden würde. Als ich aus der Umkleide-Kabine trat fühlte ich mich auf eine Weise nackt und verletzlich, wie ich es zuvor noch nie getan hatte, aber gleichzeitig auch merkwürdig leicht und aufgedreht, wobei das auch an dem Tetrapak Sangria liegen mochte, den wir auf der Hinfahrt hatten rumgehen lassen. Leider war eine der ersten Personen, der ich in diesem Gefühl begegnete, niemand anderes als Jannis. „Wer hat dich Penner denn eingeladen“, setzte er natürlich direkt ein, aber bevor ich ihm irgendetwas entgegnen konnte, wanderte sein Blick bereits weg von mir und hinter mich, und etwas in seinem überheblichen Gesichtsausdruck veränderte sich.


Ich drehte mich um und da war Paula, die ebenfalls gerade aus der Umkleide kam. Sie trug einen Badeanzug, der im Vergleich zu den Outfits der anderen Mädchen kein bisschen übersexualisiert war, aber der dennoch schon im Jahr 2008 überdeutlich machte, warum „thicc“ heute ein von vielen angestrebtes Schönheitsideal ist. Damals war das noch nicht so greifbar, ebenso wie für unsere pubertierende Gehirne noch nicht so konkret greifbar war, dass manche unserer Klassenkameradinnen sich früher zu erwachsenen Frauen entwickelten als andere, ich wusste nur, dass mir der Blick, mit dem Jannis Paula ansah, nicht gefiel. „Komm, lass abhauen“, sagte ich deshalb nur schnell zu ihr, stieß den immer noch stierenden Idioten zur Seite und wir machten uns eilig auf den Weg in die Haupthalle. Wo man sonst durch die Duschen zu den Schwimmbecken gelangte, waren die Türen verschlossen, stattdessen war das große Tor, das beim Schulschwimmen und bei Sportevents als Eingang diente, weit geöffnet und gab den Blick frei auf ein wildes Treiben, das tatsächlich ein bisschen so aussah wie auf dem Werbeplakat. Direkt am Eingang war eine Fotowand von Partygesichter.de, vor der man sich ablichten lassen konnte – was schon auf normalen Feiern unangenehm genug war, hatte jetzt noch einen ungleich ekelhafteren Beigeschmack, als ich sah, wie der Fotograf, ein Mann schon gut in seinen Vierzigern, zwei Mädchen, die ich vom sehen aus der Parallelklasse 9c kannte, aufforderte, „doch mal bisschen sexy zu sein“. Schnell gingen wir weiter ins Innere der Halle.


Die Lautstärke der Musik war ohrenbetäubend, aber das war nur ein kleiner Faktor, wenn man das generelle Bild in Betrachtung zog, das sich uns bot: Das große Schwimmbecken, nur ungefähr hüfthoch eingelassen, war randvoll mit Menschen, ein Meer aus nassglitzernden Leibern, die sich im Stroboskop-Licht zuckend aneinander vorbei und übereinander bewegten, dazwischen das bunte Aufblitzen der Bikinis und Badehosen sowie hin und wieder ein Plastikbecher mit einem Cocktail, in dem ein Knicklicht schwamm. Anscheinend war der gesamte Landkreis angereist, um hier zu feiern. Auch der Beckenrand war über und über gefüllt mit wie Tauben auf der Stange sitzenden Jugendlichen, manche johlend, manche mit ihren Sitznachbarn knutschend und manche trüb ins Leere starrend. Weiter hinten, an den Startblocks, war das DJ-Pult aufgebaut, daneben schien eine Art provisorische Bar zu sein und wiederum dahinter ging es zu den Kinderbecken und „Whirlpools“, die eher zu einer Art Ruhezone erklärt worden waren. Natürlich zog es mich am ehesten dorthin, auch wenn das wahrscheinlich bedeutete, Jannis wiedersehen zu müssen. „Wo sollen wir hin?“ rief ich Paula zu, doch der Lärm um uns herum war so groß, dass ich die Worte nicht einmal meinen Mund verlassen spürte. Sie zuckte auch nur mit den Schultern, also beschloss ich, erst einmal die Bar anzuvisieren und von dort aus einen Blick in die ruhigere Ecke zu werfen. Der Boden war unglaublich glitschig, ein Film aus verschütteten Getränken, Badewasser und Schweiß hatte die Fliesen überzogen, hin und wieder trat man auf eine aus einem Caipirinha gefallene Limettenspalte oder einen Kronkorken und alles in allem bereute ich schon zu diesem Zeitpunkt, jemals von der Party erfahren zu haben. An der Bar war es natürlich voller als sonst irgendwo, ein Wodka-E kostete zehn Euro, was ich selbst für Party-Verhältnisse als Wucher empfand, aber ich kaufte trotzdem einen und teilte ihn mit Paula (und mit Malte, der wie aus dem Nichts auftauchte, so wie er das immer tat, wenn es irgendwo was umsonst gab).


Der Alkohol schoss mir direkt in den Kopf, wahrscheinlich wegen der absoluten Hitze, die in der Halle herrschte, und sofort wurde alles ein wenig erträglicher. Wir tanzten sogar kurz zu dritt vor dem DJ-Pult, bis wir Paula im Gedränge verloren und Malte beinahe von einem komplett aufgepumpten Macho-Typen auf die Fresse bekommen hätte, weil er ihn beim Tanzen angerempelt und dann direkt rumgestänkert hatte. Generell fiel mir langsam immer mehr auf, wie viele Erwachsene auch auf der Party waren. Am Anfang hatte ich mich in der Traube der Neuankömmlinge aus meiner Klasse befunden und alle um mich herum waren so ungefähr mein Alter. Doch nun sah ich auf einmal überall Gruppen von erwachsenen Männern, die teilweise problemlos doppelt so alt waren wie die Mädchen, denen sie auf den Arsch starrten. Einige von ihnen waren unverkennbar GI’s, die vermutlich von der nahen Army-Base herüber gefahren waren, der Typ, der Malte um ein Haar vermöbelt hätte, war auch einer von ihnen, zumindest wenn ich sein SEMPER FI! Tattoo richtig deutete. Den immer noch leise vor sich hin pöbelnden Malte hinter mir herziehend trat ich den Rückzug an bevor der US-Fuzzi es sich noch anders überlegte. Wir drückten uns an der Bar vorbei und standen mit einem Mal in der „Chill-Out-Area“, wie ein recht amateurhaft angebrachtes Neon-Schild über unseren Köpfen verkündete. Hier war es in der Tat ruhiger und man hatte sich eher um ein romantisches Flair bemüht, mit zahlreichen pinken Schlaglichtern und so vielen Lichterketten wir nur irgend möglich. Dementsprechend waren die Aktivitäten hier auch viel „romantischer“, ich sah zahlreiche Paare die intensiv damit beschäftigt waren, herumzumachen, bei ein, zwei weiteren sah es so aus, als würde es unter dem Wasserpegel auch schon zu mehr kommen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie trüb das Wasser in den Schwimmbecken auch schon war, vielleicht hatte man auch etwas beigemischt, aber anhand dessen, was ich so sah, war es auch sehr leicht vorstellbar, dass diese Ursuppe am Anfang des Abends noch klar gewesen war. „Na, wen haben wir denn da?“ tönte es auf einmal zu uns herüber. „Wenn das nicht unsere Gaylords sind!“ Es war natürlich Jannis, aus dem Whirlpool krakeelend, den er mit einigen anderen aus unserer Klasse in Beschlag genommen hatte. „Was ist los, seid ihr traurig, dass außer euch keine anderen Schwuchteln hier sind?“ – „Halt dein Maul, Jannis“, entgegnete ich ziemlich lahm, aber mir war jetzt wirklich nicht nach einem Wortgefecht zumute, mir war heiß, ich war schon ziemlich platt und vor ein paar Schritten war ich in irgendwas Klebriges getreten, von dem ich lieber gar nicht wissen wollte, was es war. „Bildet euch ja nicht ein, dass ihr hier reindürft“, kam es unbeirrt aus dem Whirlpool zurück, „das hier ist nur für exklusive Gäste, nicht für so Abfall wie euch beide, oder eure fette Freundin! Wobei die ja ohnehin was anderes vorzuhaben scheint…“


Und bei diesem letzten Satz war das komische Grinsen wieder da. „Was soll das denn heißen?“ Ich hasste es, mich auf sein dummes Spiel einzulassen, aber es führte kein Weg dran vorbei. „Naja, sie scheint bessere Gesellschaft als euch zwei Homos gefunden zu haben…“ – die Schadenfreude triefte aus jedem Satz – „jetzt wo unsere Speckprinzessin zur Frau wird, scheint sie sich auch nur noch für echte Männer zu interessieren.“ Und er zeigte über die Schulter in eine Dunkle Ecke unter der Rutsche, wo ein Dreiergrüppchen eng ineinander umschlungen war. „Deine Mutter interessiert sich nur noch für echte Männer“, setzte Malte nun an, der sich wohl entschlossen hatte jetzt doch auch an der Unterhaltung teilzunehmen, aber ich hörte schon den zweiten Teil des Satzes (der mit ziemlicher Sicherheit auf die Scheidung von Jannis‘ Eltern anspielte) nicht mehr, so schnell war ich losgestürzt, um zu sehen, was unter der Rutsche vor sich ging. Rückblickend betrachtet kann ich gar nicht mehr sagen, ob es pure Neugier war, die mich antrieb, oder ob ich tief in mir schon ahnte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.


Paula lag unter der Rutsche und zwei Typen waren bei ihr, die ich noch nie gesehen hatte, der eine hielt ihre Arme fest, während der andere sie betatschte. Ein Schrei entfuhr meiner Kehle, in einer Tonart, von der mir gar nicht bewusst gewesen war, dass ich sie erreichen konnte. Das schien auch den einen der beiden Typen zu erschrecken, oder zumindest soweit zu verwirren, dass er Paulas Handgelenke kurz losließ, was ihr wiederum genug Gelegenheit gab, sich von ihrem zweiten Peiniger loszureißen und ihre Ferse in das Bermudadreieck seiner Badehose zu versenken. Ich half ihr auf, wir rannten durch die Chill-Out-Area und in Richtung Ausgang, wo der Fotograf allen Anschein nach immer noch dabei war, Teenager sexy abzulichten. 


Paula sprach an dem Abend kein Wort mehr mit mir, den ganzen Weg vom Schwimmbad zurück zur Bushaltestelle und von der Bushaltestelle bis vor ihr Haus nicht. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung, was ich sagen konnte. Paula sprach auch am Montag darauf, als wir alle wieder in der Schule zusammenkamen, nicht, weder mit mir, noch mit sonst jemandem. Generell wurde nicht mehr so viel über die Pool Party gesprochen, sie war schon wieder Schnee von gestern, lediglich der Umstand, dass im Laufe des Abends irgendwer in Jannis‘ Whirlpool geschissen hatte, machte noch ein paar Wochen die Runde.


Ich versuchte ein paar Mal, mit Paula zu sprechen, aber es ging nicht mehr. Sie schwieg weiter und als das Halbjahr vorüber war, verschwand sie plötzlich. Von einer gemeinsamen Freundin erfuhr ich, dass sie auf ein Internat in der Schweiz geschickt worden war, auf ihren eigenen Wunsch hin.


Jeden Tag, wenn ich die Treppe von der U-Bahn-Station nach oben nehme, ist das erste, was in mein Blickfeld kommt, die Litfaßsäule neben dem Zeitungskiosk. Und jedes Mal, wenn ich dort ein Plakat hängen sehe, das zu einer Pool-Party einlädt, reiße ich es ab. Das fühlt sich nicht gut an, aber ich tue es trotzdem. Für Paula.


0 Kommentare

Comments


bottom of page