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Musik aus einem fernen Raum

VON RICK LUPERT //



For I have known them all already, known them all:

Have known the evenings, mornings, afternoons,

I have measured out my life with coffee spoons;

I know the voices dying with a dying fall

Beneath the music from a farther room.

So how should I presume?

- T. S. Eliot, The Love Song of J. Alfred Prufrock


Auf dem Stuhl stehend, den er wackelig auf die Stufen, die die zwei Stöcke der Wohnung miteinander verbanden, gestellt hatte, mit dem Laken locker um den Hals und mit den Armen Gleichgewicht suchend rudernd, schaute er delirierend hinab in sein Wohnzimmer, das von Sonnenlicht gefüllt war wie eine Wabe mit Honig und fragte sich, was er da tat.


Ihm erschien plötzlich die ganze Handlung absurd: Das Trinken bis zum Kotzen, das Zurechtreißen des Lakens, das Anbinden des Lakens an das Geländer am oberen Ende des Stiegenhauses, das Befestigen des Stuhles auf den Stufen, das Hinaufklettern und sich das Laken Umlegen – eben die ganze Vorbereitung zu diesem Moment. Ihm war schwummrig und immer noch schlecht – ihm liefen Tränen aus den Augen, obwohl er nicht direkt traurig war: Eher verwundert darüber, dass der Impuls so plötzlich erschöpft war, als hätte er nicht in einem Vakuum gehandelt sondern die Energie anderweitig abgerieben.


Ihm war nicht mehr, überhaupt nicht mehr nach sterben, als er kippte und mit dem Gesicht voran Richtung Boden fiel – sein Magen machte einen Sprung und kurz spürte er noch, wie sich wieder dessen Inhalt seinen Hals hinauf verirrte, als ihm dieser zugeschnürt wurde. Sein Versuch, erschreckt einzuatmen, war schon vergebens; tonlos bewegte er den Mund, mit den Händen nach Halt suchend, den er nicht fand. Er hing da und spürte, wie sich seine Blase vor Panik entleerte, wie sein Urin warm seine Hose durchnässte.


Gleichzeitig schwoll sein Gesicht an, wurde ganz rot, und seine Augen verdunkelten sich. Er dachte an nichts mehr, fragte sich nichts, bemerkte nur, dass er ganz Körper war, dass da kein Geist war, nie gewesen war, sich diese Illusion gerade erschöpft hatte. Eine letzte Anstrengung ließ ihn mit den Beinen ausschlagen: Der Schwung, den er dadurch bekam, löste einen lauten Knall in seinem Kopf aus, ein Brechen, ein Reißen, das ihn vom Nacken herab taub werden ließ und den Kontakt zu seiner eben noch so präsenten Körperlichkeit abschnitt. Dann schwebte er. Also doch auch Geist, dachte er, oder zumindest Perspektive.


Er vermied es, seinen Körper anzusehen, schwebte auf das große Fenster zu und durch das Glas hindurch. Er empfand nichts: kein Staunen, keinen Schwindel, keine Angst. Er war klar, reines Sehen und Hören. In diesem Zustand glitt er an der Fassade des Hochhauses hinauf, bis er die Stadt überblicken konnte. Da erst begann seine Persönlichkeit ihren Weg von dem toten Hirn unten zu ihm heraufzufinden und er begann, zu verarbeiten. Er sah sich um, sah das Meer, sah die Straßen und Gebäude, die er so gut kannte, sah in einiger Ferne die Silhouette der Berge und sonst Fläche und Wald, durchsetzt von weiteren, kleineren Städten und Orten, durchzogen von Flüssen, bis zum anderen Ende der Insel. So ließe es sich sein.


Doch wollte er nun doch zurück zu seinem Körper und er glitt wieder herab. Doch ein Teil seiner selbst blieb oben, das Land und die Stadt weiter überblickend, im Blick haltend – er teilte seine Perspektive auf, vervielfältigte sie und vereinte in sich mehrere auf seinem Weg nach unten, zu seiner Leiche, deren Gesicht lila geschwollen war wie eine Distelblüte; deren Zunge zwischen ihren Zähnen hervorquoll wie ein Schwamm, der sich mit Rotwein vollgesogen hatte, und breitete sich so blickend und hörend im Raum aus, sah um sich, ließ sich vom Anblick seines toten Körpers genauso verstören wie von seinem Überblickspunkt weit oben, wo er begann, noch weiter hinaufzuschauen, bis er mich erblickte, wir uns in die Augen schauten, und ich diese Idee sofort wieder verwarf – ein Vorstoß in eine Metaebene muss wirklich nicht sein – er also alles im Blick hatte, was ihn interessierte.


Erst als er sie sah, fiel ihm ein, dass er für den Abend noch verabredet gewesen war. Er sah die Frau schon von weitem ankommen, als bekannter Punkt in der Masse der Menschen, die die Stadt bevölkerten, und sie bewegte sich auf seine Wohnung zu, wo ihm nichts blieb als Warten. Wehmut ergriff ihn, eine leise Reue, die sich in ihm ausbreitete und all sein Wahrnehmen für einen Moment bestimmte, das Meer, die Küste in weite Ferne rückte, die sich mit Erinnerungen füllte und ihn denken ließ: Eigentlich war es doch recht schön.


Sein ganzes Wesen, von oben in den Wolken bis hinunter in die Wohnung schüttelte sich und den Gedanken ab. Dann klingelte es und er musste weiter warten, füllte die Wohnung aus und spähte vor die Tür, konnte nichts tun, sie nicht öffnen, der Frau nichts sagen, deren Gesicht sich verdunkelte, als ihr niemand aufmachte und auch niemand abhob, als sie versuchte, ihn anzurufen. Nachdem sie zehn Minuten auf dem Gehweg vor der Eingangstür des Gebäudes gewartet und noch zwei Mal angerufen und fünf Mal geklingelt hatte, ging sie entnervt.


Er fragte sich, wie lange sein Körper da würde hängen müssen, bis sich jemand genug Sorgen um ihn gemacht hätte und man die Tür aufbrach und ihn fand. Er spürte die Ahnung einer Angst – eine ferne Reue, ein leises Grauen – davor, sehr lange unbemerkt tot zu sein; bestätigt zu kriegen, dass er niemandem so wichtig war, dass er nicht fehlen konnte. Aber das waren nur Erinnerung, leise, fern; Spuren von etwas, das ein Hirn gedacht hatte, welches schon nicht mehr arbeitete. Seine Persönlichkeit war ein schwacher Abdruck, der bloß dazu diente, die Perspektive zu lenken; der keine tiefen Regungen mehr verspüren sondern allein nebelhafte Schemen menschlicher Emotion in sich halten konnte, die verpufften und sich verformten und nie fest wurden.


Über der Stadt verweilte dieser schwach menschliche Blick auf dem Flecken Erde, auf dem der Körper, der nun hing, geboren war, gelebt hatte und verrotten würde. Er verweilte und nahm auf; verweilte und breitete sich aus; verweilte und sah. Er sah die Linien und Verbindungen; die Strukturen und Muster; die Fäden und Knoten. Er sah Spiegelungen in allem – alles speigelte alles wider. In seinen Höhen und Tiefen und seinem Überall-Sein verging die Zeit nicht mehr und verging ohne sein Merken und irgendwann sah er, dass er nicht mehr hing.


Er suchte sich, suchte die Stadt ab, schaute in alle Häuser und Wohnungen und Gebäude hinein, bis er sich liegen sah, nackt ausgezogen und aufgeschnitten auf einem stählern glänzendem Tisch. Er war ganz weiß. Er empfand nichts mehr dabei, sich so zu sehen, sondern neutrales Interesse daran, sich auszubreiten und zu schauen. Also fuhr er zurück in sich, sah sich um in diesem Körper, den er einmal bewohnt hatte, und erkannte nichts daran wieder. In diesem Körper war nichts mehr, das ihn mit ihm verband; in diesem Körper war das Leben, das auf den Tod folgte, und aus Kleinstlebewesen bestand, die geschäftig ihre Arbeit taten und ihn zersetzten.


Er sah zu, sah ihnen beim Vernichten zu und fühlte nichts mehr dabei, war genauso empfindsam wie die Luft, durch die er schwebte, mit der er eins geworden war, von der ihn kaum mehr etwas unterschied. Die wenigen Gedanken, die diese Luft noch durchströmten, waren von Begreifen erfüllt. Er begriff die Porosität und das Auslaufen seiner Zellen, das ineinander Fallen seiner Gewebe, das Lösen seiner Struktur, so wie jede Struktur aufgelöst wurde und sich in eine andere verwandelte. Er sah das Universum, das sein Körper war, in sich zusammenbrechen und zu implodieren.


Er begriff fertig und fuhr heraus aus dem, der einmal er gewesen war; fuhr heraus aus dem Obduktionsraum und aus dem Gebäude; fuhr heraus aus der Straße, der Stadt, dem Land, der Insel und sah vor sich die Welt und um sich die Sterne und begann zu hören. Er hörte Töne in diesem tonlosen Raum, in dem seine Welt rotierte; hörte das Krachen und Rauschen und Reiben und Sausen all dessen, was im Vakuum stob. Es war ihm wie Musik und fasziniert lauschte er dem Maschinenraum des Alls. Er brauchte keine Luft mehr, die Schall übertrug – er hatte keine Trommelfelle mehr, die die Schwingungen aufnehmen könnten. Es reichte vollkommen, dass er da war, dieser Krach des Rotierens, Explodierens, Reißens, Ziehens, Haltens, Saugens – dieser Lärm all dessen, was im Universum den Zerfall und das Leben dessen spiegelte, der er gewesen war. Er hörte zu.


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