innerlich treiben wir es // wesentlich bunter
- Raoul Eisele
- 1. Dez. 2020
- 2 Min. Lesezeit
Auszüge aus dem Gedichtzyklus
innerlich treiben wir es // wesentlich bunter
Spuren I.
der Mensch ist ein monströses
Wesen, wer hier von Schönheit spricht
hatte immer noch nicht verstanden, dass
wir vom Affen abstammten, dass wir
bloße Tiere waren, die in Rudeln
herumzogen, die nur ihresgleichen
ernst nahmen, sie waren einzig und allein
Wesen, die teilweise aufgehört hatten
sich mit ihren eigenen Exkrementen
zu bewerfen, doch nun drängte es immer wieder
wieder an die Oberfläche, immer weiter
an den Moment, an dem man sich und
seinesgleichen mit Kot beschmieren würde
nur um zeigen meins und meins und meins
Spuren V.
sagst morgen soll für übermorgen gelten und wie
deine Augen dabei den Boden berühren, deine
Augen immer tiefer geneigt und als würde jedes
Wort deines Satzes so unaussprechlich, so
ungefähr den Boden entlang, sich einen
Nistplatz suchen, ganz als müsste es noch
wachsen, brüten, sich brüsten mit der
Welt, die noch lange nicht das Übermorgen zu
erwarten weiß, wie viel Vergangenes steckte
doch noch ins uns, wie wenig Platz bleibt da für
morgiges und wie ich wünschte, du würdest
es mir ins Gesicht, würdest es aus voller Kehle
krächzen, wie ein Muttervogel wirst du einmal
sein, sodass auch überübermorgen deine
Worte noch ausgesprochen sind
Spuren VII.
bin ganz dünn wie deine Wimper
deine Fühler an mir, bin noch kein
Schmetterling im Bauch, eher ein ewig
sich zu entfaltender Kokon, der sich
an dein Herz gesponnen
Spuren XII.
wie es einem doch unverständlich dieses Erröten, dieses
Zittern, selbst wenn man die Wahrheit sprach, selbst, wenn
man nur aus Feigheit, mutlos, dieses winzige Flunkern über
die Lippen ließ, wenn man doch nur sagen wollte, wie sehr
man doch, wie sehr es einen traf und doch ließ es einen nicht
minder stottern, jene unaussprechlichen Worte, so als kämen sie
nicht von einem selbst, als kämen sie von jemand anderem
und als wäre alle Regung irreal, als würde man den Körper
teilen, ein Bienenschwarm, ein Nest aus Waben in winzige
Sechsecke, Hohlräume, aus denen man etwas hervorzog, so
als wäre es einem unbekannt, als wäre es eine scheinbar
unentdeckte Honigzelle, eine noch nicht aufgedeckte Topografie
der eigenen Haut, des eigenen Verstands vor dem man erschrak
man fand etwas, dass man sich selbst nie eingestehen wollte
dass man nie für möglich gehalten hatte, es waberte
nun aber war es ausgeschwärmt, nun war man entlarvt
Spuren XIV.
auf meiner Morgenmarmelade Schimmel, der
sich pelzig an das apricotfarbene Gelee
schmiegt und leuchtet, ganz bläulich und grün
und am Rande weiß, der von Tag zu Tag ein wenig
größer, runder in der Form – nur selten kratze ich seitlich
etwas ab, lasse ein pelziges Auge in der Mitte stehen
und streiche mir mein Brot mit Butter, mit
Marillenmarmelade, schraube das Glas mit seinem
grünen Deckel wieder zu und stelle es unbesorgt
in den Kühlschrank zurück und freue mich
wenn es mir morgens wieder zublinzelt aus dem Marmeladenglas
Spuren XVI.
seit sich die ersten Menschen von mir über
Face-time verabschiedeten, fällt mir die
Angst vor dem Tod nicht mehr ein
sie hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, heute
ist der Tod nichts weiter als das
Abschalten meines Smartphones, ein kurzes
Gedrückthalten des Ausschaltknopfs, ein
Bestätigen und schon war man Geschichte, schon
war man nichts weiter als ein schwarzer
Bildschirm, in dem man sich nicht einmal mehr spiegelte
der letzte Absatz - absolute Gänsehaut!