Ich kann die fünf Phasen der Trauer im Schlaf herunterbeten: Verdrängung, Wut, Verhandlung, Verzweiflung, Akzeptanz.
Verdrängung, Wut, Verhandlung, Verzweiflung, Akzeptanz.
Seit du weg bist, kenne ich sie alle. Seit du weg bist, bin ich sie alle durch. Eine Phase nach der anderen, wie aus dem Psychologie-Bilderbuch. Sie haben es mir gesagt, all die Anderen, die etwas ähnliches erlebt haben, all die Fachleute, all die Pseudo-Fachleute aus dem Internet, all die Forumsbeiträge, all die Bücher, alle, alle, alle. Als wäre es eine Prophezeiung, an der ich nicht vorbeikomme. Als wären meine nächsten Schritte in Stein gemeißelt.
Sie alle haben es mir gesagt, und sie alle hatten recht. Was dir aber keiner sagt, ist, wie verdammt schwer jede einzelne Phase ist. Wie lange sie dauern können (Wut, Verzweiflung, Akzeptanz) und wie schnell sie vorbei sein können (Verdrängung, Verhandlung, Akzeptanz).
Und was dir auch keiner sagt, ist, dass man es dir ansieht. Nicht so, wie man immer denkt. Ich trage kein Schild: »Ich trauere.« Ich trage nicht wochenlang nur Schwarz. Ich weine nicht in der Öffentlichkeit, nur weil dein Name fällt.
Außenstehende haben keine Ahnung, sie sehen nichts, sie sind blind. Aber ich sehe es. An meiner Haut.
Verdrängung: Ich beiße auf meine Lippen, weil ich schweige, weil ich all die Worte, die herauswollen und herausmüssen, verdränge. Meine Lippen sind rötlich, bläulich, aufgeplatzt, rissig. Wut: Ich kratze und beiße. Es ist niemand da, den ich kratzen und beißen kann, weil du weg bist, also kratze ich mich selbst. Meine Arme sind ein Schlachtfeld aus roten Kratzern, blauen Zahnabdrücken, rosa Narben.
Verhandlung: Ich wringe meine Hände, will mit dir verhandeln, mit mir, mit Gott, mit irgendjemandem. Meine Hände sind rissig, die Knöchel eine Kraterlandschaft, die Handrücken Flussdeltas.
Verzweiflung: Ich weine und weine und weine, ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel weinen kann ohne auszutrocknen. Meine Augen sind rot und geschwollen, meine Nase ist rot und geschwollen, meine Lippen sind rot und geschwollen.
Akzeptanz: Ich nehme mich selbst in den Arm, verarzte all die Wunden und Narben, ich bin bedeckt mit Salbe und Heilung und Zerbrechlichkeit. Was trotzdem bleibt: Wunden und Narben.
Und was dir auch keiner sagt über Trauer, ist, dass es irgendwann auch noch eine sechste Phase gibt: Wachsen. Ich bin durch alle fünf Phasen gegangen, immer und immer wieder, und was ich festgestellt habe: ich bin größer jetzt. Ich bin so viel gewachsen, meine Haut juckt und kratzt, weil mein Körper nicht mehr Platz hat in ihr. Ich kratze die alten Narben wieder auf, aus alten Wunden werden neue Wunden, weil meine Haut zu klein ist für meine Stärke. Alles wird rissig und blutig und schorfig. Was dir keiner sagt: Narben bleiben ein Leben lang. Was der Arzt sagt: Neurodermitis.
Find die Symbolik und Bildhaftigkeit hier so stark, wie du beide Themen zusammen bringst. In deinem letzten Absatz konnte ich so viel wiederfinden und vor allen Dingen eine ganz neue Sichtweise auf das Wachsen nach Trauer!