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Dosenbier & Tocotronic



„Und ich sag noch, lass uns einfach ein Taxi nehmen. Aber nein … “ Bormanns Laune ist unter Tiefpunkt. Da kam einiges zusammen. Erst ihr Chef, der ihnen kurzfristig dieses Meeting aufgedrückt hatte, zu dem sie gerade unterwegs sind. Dann natürlich die unfähigen Typen, deretwegen es überhaupt nötig war und, ebenfalls deretwegen, sicher sinnlos. Maßgeblich für Bormanns versenkwürdige Laune verantwortlich war aber sein Freund, der, O-Ton Bormann, gerade noch unerträglicher war, als dieses Meeting, öffentliche Verkehrsmittel ohne erste Klasse, Automatenespresso, schlecht sitzende Anzüge und das letzte Album von Kanye zusammen.


Nicht so, dass Tjark Paulsen Lust darauf hatte, hier mit Bormann in der Bahn zu stehen. Oder auf dieses Meeting. Oder darauf, dass es ausgerechnet hier stattfand, in diesem geografischen Vorkommnis mit Stadtrecht, für das Reiseführer einladende Umschreibungen finden, die ihm auch in hundert Jahren nicht einfielen. Nichts verändert, seit Tjark das letzte Mal hier war. `Ne

gefühlte Ewigkeit ist das her. Realistisch wohl nur `ne halbe. Lang vor Hendriks Beerdigung war das. Völlig überraschend und unerwartet aus dem Leben geschoben: Von einem ungebremsten LKW in einen stehenden, hinter dem Hendrik in seinem keine-Chance-Wagen kurz zuvor das Stauende gebildet hatte. Tjark war komplett von den Socken. Der Unfall natürlich… Tragisch! Dazu Bastian. Dass er ihm schrieb, war, von Hendriks Tod abgesehen, so ungefähr das Letzte, womit Tjark gerechnet hätte. Schließlich hatten sie seit Jahren keinen großen Kontakt mehr. Oder überhaupt.


Dabei waren sie von der Neunten bis zum Abi quasi ein Wort: TjarkHendrikBastian. Wie ColaFantaSprite. Wie PommesRotWeiß. Wie DosenbierUndTocotronic. Alles, was teilbar war, haben sie gedrittelt, damals. Alles, was ging, aus dem hunderttausend-Seelen-Kaff rausgeholt: alles Erlebbare erlebt, alle Abenteuer geplündert, alles Schöne zwischen Ortseingangs- und Ortsausgangsschild für sich beansprucht. Was selbst mit wenig hohen Ansprüchen einiger Phantasie bedurfte, die nicht selten von Optionsmangel und Vergleichsarmut beflügelt war.


Möglichkeiten gab es erst nach dem Abi. Anders als Tjark, der nicht nur wusste, dass er studieren wollte, sondern auch was und wozu, hatte Hendrik damals noch keine wirkliche Idee. Seine Eltern dafür aber einen gut gehenden Cateringservice mit vollen Auftragsbüchern, wo er erstmal mit einstieg. Bastian hingegen wollte einfach so weitermachen, wie sie ihren letzten gemeinsamen Sommer verbracht hatten. Nur, dass er jetzt für drei sommern musste: also so gut es ging für drei trinken, rauchen und gammeln. Wann immer Hendrik frei hatte, unterstützte er Bastian. Alles, was zu dritteln ging, wurde dann geteilt. Auf den Bildern, die Hendrik später auf seinem Account hochlud, war Tjark immer mitmarkiert. War Grünglascontainer, war der Zehner im Schwimmbad, war Cola, war Pommes, war Dirk von Lowtzow, war nicht in Seattle, war jedes dritte Dosenbier, war mal Brathering, mal Aspirin, war öffentliche Toilette, war Tony Hawk, mehrfach Homer Simpson, war nie Hals-, dafür doppelter Armbruch, war Meisterschale, war Zwiebel auf `nem Döner, war siebzig Euro-Pfandbon oder das Brötchen zu Wurst-Hendrik und Senf-Bastian: Tjark war alles, nur eben nicht dabei.


Klar wollte er weg. Hat ihn ja niemand gezwungen. Hätte ja auch bleiben und nichts oder nicht mehr aus seinem Abschluss machen können. Hätte sich alles schon irgendwie gefügt, weil sich ja immer alles schon irgendwie fügt. Wäre dann vielleicht einfach gleichgeblieben oder zu wenig anders geworden. Genau das wollte Tjark ja aber nicht: Er wollte ja weg. Wollte Neues erleben; so viel wie geht sehen und kennenlernen. Wollte etwas mit Zukunft statt irgendeiner. Und trotzdem ständig das Gefühl, alles zu verpassen. Luxusproblem, schon klar. Mit Bastian und Hendrik darüber reden, klappte nicht annähernd so gut, wie sich mit ihnen darüber lustig zu machen und sich gegenseitig aufziehen. Dummmachen, aber aus Liebe. Dazu Dosenbier und Tocotronic. Solang das und die alten Witze noch funktionierten, sogar die blöden, solang funktionierten auch Tjark und Hendrik und Bastian.


War eine komische Zeit damals. War der Zeit natürlich egal. Sie sammelte unbeirrt weiter wie besessen Gegenwart und zukünftige Erinnerungen, häufte Erfahrungen, Wissen und Staubfänger an, spülte Kontakte ins Telefonbuch, verhalf zu neuen Freundschaften, erzählte neue Witze, vergaß die alten, die blöden später als die anderen, sorgte öfter für Stress als nicht, stellte neue Ziele in Aussicht, änderte Pläne, Interessen, Geschmäcker, Ansprüche, heilte alte Wunden und bescherte neue, lief gnadenlos davon oder klebte genauso gnadenlos fest, zeigte sich von ihrer besten und von ihrer beschissensten Seite, manchmal zeitgleich, belohnte mit Beziehungen, bestrafte mit Trennungen – manchmal auch andersrum, war beteiligt an Weder Nochs und Sowohl-als-Auchs, an Nach-wie-Vors und an Ab-heute-nie-Mehrs, ließ über Wahrheiten genauso Gras wachsen, wie über Lügen, wurde Lücke in Lebensläufen oder nicht, öffnete zu viele Getränke und alle denkbaren Wege – auch die falschen. Sie machte einfach das, was sie immer macht und am besten kann: vergehen.


In seinen ereignislosen Account loggte sich Tjark nur noch an seltenen, dann aber viel zu gefühlsduseligen Abenden mit zu viel, zu schlechtem Bier und zu vielen, zu alten Tocotronic Songs ein, um sich ein bisschen durch Hendriks Inzwischen-Welt zu scrollen.

Wegen der irgendwann ausbleibenden Markierungen nahm er an, dass auch Hendrik und Bastian keinen Kontakt mehr hatten. Wenn er sich Bastians Profilbild plus dessen letzte Gefällt-mir-Angaben anschaute und an seine letzte Begegnung mit ihm zurückdachte, konnte Tjark sich problemlos vorstellen, woran das lag. Gefragt hat er keinen der beiden. Nicht mal an den seltenen Abenden mit Bier und Tocotronic. Und sonst erst recht nicht.


Und dann Bastians Nachricht. Der Unfall. Hendriks Beisetzung. Das Wann, das Wo. Das „Wär‘ schön, Dich wiederzusehen“, das zu dieser Nachricht noch weniger passte, als generell. Verfluchter nicht gelöschter Account. Verfluchte Neugier. Verfluchtes „Nachricht gesehen“. Also antworten. Dass er schockiert war, stimmte. Der Rest nicht: Tjark saß weder damals noch sonst irgendwann in Seattle fest. Seattle war lediglich das erste, was ihm damals einfiel. Sicher wegen Tocotronic. Dass er, wie er Bastian versicherte, trotzdem alles versuchen würde, zur Beisetzung zu kommen, war das komplette Gegenteil von dem, was Tjark tatsächlich vorhatte.


Was hätte er auch auf der Beisetzung gesollt? Er wusste ja nicht mal, ob er traurig war. Schockiert, klar. Aber traurig? Wenn man die Zeit bis zum Abi und seine ersten beiden, vielleicht auch die ersten drei Semesterferien mal wegließ? Eher nicht. Alles, was Tjark seither von Hendrik wusste, wusste er von dessen Timeline. Ihm sagten die Filme und Serien nichts, die Hendrik mochte; teilte nicht dessen Begeisterung für maßgeschneiderte Erlebnisgeschenke; konnte nichts anfangen, mit der Musik, die er und seine inzwischen alten neuen Freunde hörten, kannte weder Hendriks Ex-Frau, noch seine letzte Verlobte. Und hätte Hendrik Kinder gehabt, hätte Tjark auch die nicht gekannt.

Er weiß nicht, ob Bastian damals zur Beisetzung gegangen ist. Oder getorkelt. Ob er überhaupt eingeladen war. Ob er mitbekommen hatte, dass Tjark nicht da war. Das oder irgendetwas anderes. Bastian hat sich nicht mehr gemeldet, nachdem er Tjarks Antwort gesehen hatte. Vier Jahre ist das her.

Wer weiß, ob Bastian überhaupt noch lebt. Kaum vorstellbar, dass Grütze oder Schnitzel oder Locke, oder wie seine systemfordernden Kumpels alle heißen mögen, Tjark informieren


würden. Wie auch. Und fast noch mehr: Wozu auch? Immerhin bliebe Tjark so eine Antwort erspart. Was sollte er auch antworten: Dass er, wie damals bei Hendrik, schockiert wäre? Selbst das wäre gelogen.

„Ernsthaft Paulsen“, nölt ihn Bormann zurück ins Straßenbahn-Jetzt. „Nochmal kriegst Du mich nicht, in so `ne Schienenlatrine. Ich hoffe, dass die in der Reinigung den Geruch rauskriegen. Sonst war‘s das mit dem Anzug.“ „Jetzt übertreib mal nicht. In ein paar Stunden sind wir hier wieder weg. Und solang wirst Du es ja wohl noch aushalten.“ „Du hast gut reden, Paulsen.“ „Und Du keine Ahnung, Bormann.“



4 Kommentare

4 Σχόλια


TAYPHOON
TAYPHOON
18 Ιαν 2021

Zu der Geschichte kann ich nichts sagen, was nicht schon gesagt wurde. Zum ins Herz schließen!


Wozu ich aber aufjedenfall was sagen will, ist dein Umgang mit Worten. Du nimmst die Worte, die die Menschen mal erfunden haben, an, hast aber eine ganz eigene Verwendung für sie. Ganz eigene (Regeln). Und es könnte kaum mehr Spaß machen.

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Marina
Marina
10 Δεκ 2020

What a ride! Fängt sehr gut das Gefühl nach der Schulzeit ein — irgendwie erleichternd ein neuer Weg und gleichzeitig traurig melancholisch!

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Sebastian
Sebastian
01 Δεκ 2020

Wie Freundschaften nun mal aufhören und damit auch das Gefühl von gegenseitiger Verantwortung. Ich war sehr hineingesogen in diesen Text und vor allem der Abschnitt, in dem die Zeit vergeht, ist eine der schönsten Raffungen, die ich je gelesen habe. Aber insgesamt ist dieser Text einfach wundervoll!

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Pierre
Pierre
01 Δεκ 2020

Was alle NICHT meinen, wenn sie sich am Ende der Schulzeit versprechen, in Kontakt zu bleiben.

Was für eine bittere kleine Wahrheit. ❤️

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