Unmelodisch summend geht Stephan im festen ledernen Schuhwerk durch die Morgendämmerung, in der kalter Nebel die trüben Wolken stranguliert, laut tritt er auf den leergefegten Asphalt, vorbei am schlafenden Kirchkoloss, auf dessen Stufen zwei fette Tauben um ihr Frühstück ringen – ein vom Regen aufgeweichtes Stück Brot –, beschleunigt sein Tempo, während die Fenster auf seinem Weg allmählich aufleuchten, vorbei an einer strauchelnden, kaum bekleideten jungen Frau in zerrissener Strumpfhose und Gefolgschaft ihrer kichernden und immer wieder „Oh Gott!“ stöhnenden Freundin, hinein in den fauligen, nach Urin, nach Suche und Resignation riechenden Bahnhof, raucht stolz und angestrengt wieder keine Zigarette und betritt nach siebenminütiger Wartezeit die S-Bahn, die sich, all ihren müden Insassen zum Trotz, schon in dieser frühen Stunde geschäftig gibt.
Er nimmt Platz und lässt den Blick schweifen. Gähnende Menschen starren auf grelle Handydisplays oder auf Bücher, ohne je umzublättern. Statt Unterhaltungen hört er blecherne Musik aus billigen Kopfhörern flüchten – und nur ein einziger Mann, der weder Stöpsel in den Ohren trägt noch etwas in seinen fleischigen Händen hält, die ruhig auf dem Schoß liegen, blickt durch das Fenster in den Himmel und lächelt. Es ist ein dankbares Lächeln durch nicht ganz gerade stehende, aber gut gepflegte Zähne und volle, in dichtes schwarzes Barthaar eingerahmte Lippen, das er den Mitfahrenden nicht vorenthält, wenn er an jeder neuen Haltestelle zu den sich öffnenden Türen blickt, als warte er auf jemanden, ohne selbst zu wissen auf wen, und ohne Schaden zu nehmen, wenn der Erwartete nicht eintrifft.
Minute um Minute fliegt indes davon.
Mit dem zweiten Einsetzen des Schulgongs erreicht Stephan das Klassenzimmer. Er kontrolliert die Anwesenheit, er ermahnt Schülerinnen, die sich um mehr als zehn Minuten verspätet haben. Er redet mal von Elektronen, mal von Mikroorganismen, überhört die unqualifizierten Zwischenrufe desinteressierter Schüler, die ihrem übermächtigen Stolz darüber, ein Wort wie „endoplasmatisches Retikulum“ auswendig gelernt zu haben, Ausdruck verleihen wollen. Eine Stunde später schreibt er Formeln an die nassgewischte Tafel, lässt sich die absurdesten Rechenwege vorlesen und beantwortet zum hundertsten Mal die Frage, was denn nun reelle Zahlen seien. All das könnte er im Schlaf und: Oh Gott, denkt er, was für eine ruhige Nacht das wäre!
Am Abend füllt Stephan geistesabwesend frisch aufgebrühten Kaffee in zwei metallene Automaten. Er schmiert und belegt noch ein paar Brote und streift mit seinem umherschweifenden Blick das bronzene Kreuz an der kahlen Wand der Bahnhofsmission. Dann öffnet er das Fenster und die Kälte nimmt Einzug.
Heute sei viel da, verkündet er dem schmächtigen, haarigen Anführer der Schlange, zwei Brote könne er haben und eine Bockwurst, "Tee oder Kaffee dazu?" Stephan blickt hinab auf ein fleischiges Paar Hände und weiß nicht, warum er erschrickt.
Je kleiner die Schlange, umso eisiger wird es in dem mäßig beheizten Einrichtungsraum und Stephans zierliche Mitarbeiterin zieht minütlich den lockeren Schal dichter um den Hals. Im Fenster erscheint ein frisches Gesicht, gereizt von der letzten Rasur, scheu an Stephan vorbei blickend. Ob er auch drei Brote haben könne, mit Käse idealerweise, dafür keine Wurst, und heißes Wasser, vielleicht mit ein wenig Zucker, aber nur ganz wenig.
Außerhalb der Schlange, wo sich Grüppchen gebildet haben, werden die Stimmen mit einem Mal lauter. Stephan, der sich nun vermehrt mit Sonderwünschen plagen muss, bemüht sich, mindestens mit halbem Ohr zu lauschen; mit halbem Gelingen, auf die tiefste der Stimmen zunächst, die sich immer wieder über alle anderen erhebt. Pausenlos reiht der Redner heiße Worte aneinander und als irgendwann die Worte nach Einladung zu klingen beginnen, die Rede auf ein großes Winteressen kommt, werden auch die Hungrigen hellhörig und ruhig, auch in den Gruppen verpuffen alle Gespräche.
„Ich war auch da, wo ihr jetzt seid“, spricht die tiefe Stimme wie sich selbst entfernt und entfremdet, und macht einen Bogen zu sich zurück, als sie schließt: „Der Glaube hat mich da herausgeholt. In IHM habe ich mein Zuhause gefunden. Und, siehe da, ich habe wieder ein Dach über dem Kopf.“
Die schrille Stimme des rasierten Frischlings löst die des Predigers ab: „Man muss doch nur ein bisschen Zeitung lesen, um zu sehen, dass dein Gott mehr Leben geraubt als Wohnungen verschenkt hat.“
Aber Gott, entgegnet der Gläubige, egal in welcher Religion man ihn finden möge und ungeachtet all derer, die seinen Namen missbrauchen, habe auch ihm nichts geschenkt, schenke niemandem etwas.
„Damit ihr mich alle versteht: Der Glaube ist es doch; er allein ist der Ast, an dem wir uns hochziehen können, um klare Sicht auf den Dreck da unten zu haben, aber auch auf das Schöne, das Warme, auf die Dächer über noch leerstehenden Zimmern und die Wege, die in diese Zimmer führen, derer dieses Land genug für jeden hier hat. Der Baum, zu dem der Ast gehört, reicht in den Himmel, wo es für die Lebenden nichts zu schauen gibt, aber wer an der rechten Stelle abspringt, kann alles haben, was ihm zusteht. Er braucht nur viel Kraft, viel Glauben, um sich hochzuziehen.“
Stephan seufzt.
"Wo bist du mit deiner Aufmerksamkeit?", fragt ihn seine Kollegin.
Den Tag noch in den Ohren, aber alle Antworten darauf, alle überflüssigen Fragen mit Benzin übergossen und in die dauerhaft brennenden Regionen seines stillschweigenden Innenreichs abgeführt, damit sie auch ja nicht einmal die Schwelle zum Unterbewussten erblicken und sich ihm in durchträumten Nächten aufdrängen, balanciert Stephan, nachdem er den Unterricht für den kommenden Tag vorbereitet hat, ein schwer beladenes, dampfendes Tablett die grell beleuchtete, eng von Spinnweben und an der von Furchen durchzogenen Wand entlang schlängelnden Kabelverwirrungen umsäumte Kellertreppe hinunter, entriegelt, nachdem er das Tablett kurz abgestellt hat, ruhig die kleine schwarze Kellertür, stemmt sein Gewicht dagegen, ächzt vorbei an der Matratze seiner schnarchenden Untermieterin, um auf dem staubigen Holztisch das Abendbrot anzurichten. Unter dem Tisch liegen Essensreste und zerbrochenes Geschirr.
Aus dem Badezimmer her wandert der Geruch von Erbrochenem die Wand entlang. Als Stephan zur Reinigung der Toilette das Nebenzimmer betritt, erkennt er missgestimmt, dass seine schwierige Untermieterin sich auch hier an der Tapete vergangen hat. Stephan entfernt sich von der Toilette, zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnet damit den Schrank, in dem er Wandfarbe und Pinsel verstaut. Routiniert übermalt er die Stelle, an der sie mit Blut die Formel aufgeschrieben hat, die sie beide erst in diese unangenehme Situation gebracht hat.
Stephan empfindet zurzeit nicht viel. Jedenfalls nie lange, aber die Faszination ist noch da, jedes Mal, wenn er diesen schummrig beleuchteten Palast hier unten betritt: keine Faszination mehr für das, was er und Dalia während ihrer aufregenden Forschungsarbeit entdeckt haben, nein, das ist nur noch grausam, und immer grausamer, je mehr er darüber nachdenkt, was ihr geheimes Wissen für Welt und Menschheit bedeuten würde. Es fasziniert ihn mehr, was er hier unten über sich herausgefunden hat, wer er sein kann, zu was er in der Lage ist zu einem höheren Ziel: vielleicht rettet er die Menschen, die Gläubigen wie die Ungläubigen, vielleicht beschützt er sogar Gott - auf jeden Fall hält er eine siebenunddreißigjährige Frau in seinem Keller fest und das findet er, wenn er über den unangenehmen Beigeschmack hinwegschmeckt, ziemlich cool. Zumindest hätte er nie gedacht, dass er der Typ dafür ist.
"Sie suchen nach mir", sagt Dalia. Sie hat sich aufrecht hingesetzt.
Jetzt erst sieht Stephan sie richtig an: Sie ist sehr blass, hat dicke dunkle Ränder unter den halbgeschlossenen Augen, Flecken überall im Gesicht, der blonde Pferdeschwanz fettig und verknotet, der Pony klebt ihr an der feucht glänzenden Stirn und am Kinn ist ihr ein Barthaar gewachsen. Sie sieht alles andere als vertrauenswürdig aus, würde sie so unter die Leute gehen, sie würden ihr nicht mal abnehmen, dass eins plus eins zwei ergibt. Das bringt Stephan für einen kurzen Moment zum Lächeln. Er lächelt wie der Mann in der S-Bahn gelächelt hat, bis er nicht mehr weiß, warum.
Dalias weißer Trainingsanzug ist ergraut wie ihre Haare, ihre Lippen sind trocken und voller Risse, und Dreck hat sich angestaut unter den Fingernägeln, unter dem getrockneten Blut an den Spitzen der Fingernägel, und überall auf ihrer schmutzigen Haut: Kratzer und Kruste.
"Die Leute suchen nach allem möglichen", sagt Stephan.
"Und nach mir", entgegnet Dalia energisch. "Und irgendwann werden sie auch hier suchen."
"Du bist verrückt."
Dalia lacht. Wie eine Verrückte, denkt Stephan.
"Ich bin verrückt?", fragt Dalia, die Augen aufgerissen. Sie steht auf, aber weil sie wacklig auf den Beinen ist, setzt sie sich wieder.
Sie kreischt. "Stephan!"
Dann hält sie inne und starrt an die Wand neben sich, auf weiße Farbe von gestern, unter der sie angeblich die Gottformel notiert haben soll, starrt, als würde sie versuchen, irgendwas von der noch halbfrischen Farbe abzulesen. Sie erinnert sich plötzlich, wie Stephan ein paarmal über diesen hässlichen Keller gesprochen hat als wenn er leben würde oder als wäre hier irgendetwas, das lebt. Außer den Ratten, den Spinnen und ihnen beiden. Es hat nie einen Grund dafür gegeben, dass sie diesen Raum für ihre Forschungen gewählt haben, nur den Grund, dass es für Stephan keinen anderen Ort geben konnte. Als Dalia einwandte, dass sie nicht ständig die Treppe hochgehen wolle, wenn sie mal müsse, verkaufte Stephan sein Auto und ließ ein Badezimmer in den Keller einbauen. Da zweifelte sie zum ersten Mal an seinem Verstand. Aber sie hat mitgemacht. Sie hat eigenhändig die Toilette montiert.
Stephans schwere Schritte reißen Dalia aus den Gedanken. Er bewegt sich auf die Tür zu.
“Glaubst du denn, du kannst die Wahrheit verstecken?”, fragt Dalia schnell und bringt Stephan so dazu, sich umzudrehen und wieder ein paar Schritte auf sie zuzugehen. "Niemand darf es erfahren!" Stephans Oberkörper bebt. "Wir müssen den Leuten ihren Glauben lassen”, sagt er leise. Woran sollen sie glauben, wenn alles bewiesen ist?
In Dalias Augen glänzen ein paar Tränen. Sie versucht ein zweites Mal, aufzustehen. Ihre Beine zittern wieder, sie stützt sich an der Wand ab. Stephan mustert sie angespannt, bereit einzugreifen, sobald sie was Dummes versucht. Aber eine ganze Weile lang passiert gar nichts. Staub fällt in Zeitlupe von der Decke auf den Boden, während in einem Spinnennetz im dunkelsten Winkel des Kellers eine Fliege ihren letzten Atemzug haucht.
“Lass. Mich. Jetzt frei”, schreit Dalia in die Stille hinein. So heftig, dass Stephan es im Magen spürt.
“Du hast doch eine neue Bleibe gebraucht”, sagt er beschwichtigend. “Bei dem Wohnungsmarkt findest du nichts Besseres."
Dalia sackt in sich zusammen, ihre Fingernägel kratzen die Wand entlang. Sie schließt die Augen und knallt den Hinterkopf leicht gegen die Wand.
"Der Preis ist mir zu hoch."
"Du findest nichts Günstigeres!"
Das alles wirkt so unnatürlich, denkt Dalia.
Während Stephan unruhig auf und ab geht, stellt sie sich vor, es würde jetzt jemand mit einem Durchsuchungsbefehl vorbeigekommen. Er würde die Kellertreppe hinuntergehen und an der Türe lauschen, aber alles, was er hört, würde ihn glauben lassen, hier werde gerade ein Film gedreht oder ein Hörbuch aufgenommen. Weil er weder dabei stören will noch die Qualität des ihm Dargebotenen für sonderlich hoch einschätzt, würde er dann einfach wieder nach Hause gehen und mit seiner Frau schlafen oder seinem Mann oder seine Kinder anschreien, weil sie immer noch nicht im Bett sind, oder erst einmal etwas essen, während sie hier unten… Sie beißt die Zähne zusammen. Ein Stück ihrer angekauten Lippe landet dazwischen und fängt sofort wieder zu bluten an. Sie atmet ein paarmal durch die Nase, dann sagt sie, betont langsam, in der Hoffnung, dass der imaginäre Polizist die Situation doch ernst nimmt: "Stephan. Ich glaube, du bist wirklich krank. Du kannst nicht mehr klar denken. Du begehst gerade eine Straftat. Wenn du mich gehen lässt, dann verspreche ich dir, ich erzähle niemandem, was passiert ist."
"Wenn ich dich gehen lasse", sagt Stephan, "dann erzählst du es allen. Du erzählst allen, was wir wissen!"
"Ich erzähle niemandem was.” Dalia klingt müde und abgeschlagen. “Und, Stephan, wir wissen auch nichts. Wir wissen überhaupt nichts. Du bildest dir das alles ein." Während sie spricht, spürt sie den Druck, den sie die ganze Zeit schon auf der Blase hatte, stärker werden, und ein Ziehen im Unterleib.
Für einen kurzen Augenblick zweifelt Stephan wirklich an seinem Verstand. Dann sieht er, wie Dalia zittert und seinem Blick ausweicht, nein, so verhält sich niemand, der die Wahrheit sagt. Und überhaupt, wenn er sich alles nur einbildet, warum sagt sie es ihm erst jetzt? Scheint, dass sie alles daran setzt, diese Welt ins Chaos zu stürzen. So gottlos ist sie, dass sie selbst dann noch allein der Wissenschaft huldigt, wenn sie selbst gesehen hat, dass es einen Gott gibt. Und aus guten Gründen hält der sich versteckt.
"Warum hast du so eine Angst, Dalia?", fragt Stephan nach ein paar Minuten. "Du hast nicht mal dein Essen angerührt. Du hast seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Das ist nicht gut für dich." Dalia schweigt. "Du kennst mich doch. Du weißt, dass ich dir nichts Schlechtes will."
"Dann lass mich hier raus. Bitte. Ich sage nichts über egal was, zu niemandem.”
Dalia kann nicht mehr einhalten. Sie lässt zu, dass die Mischung aus Urin und Blut ihre Unterhose durchnässt, langsam ist es auch egal.
“Na gut”, sagt Stephan schließlich. “Warte hier."
Er öffnet die Tür nur einen Spalt weit, als er hinaus tritt, und Dalia hat es ohnehin aufgegeben, jedes Mal loszustürmen, nur um dann mitsamt ihrer Hoffnung unter den Schlägen in sich zusammenzusacken. Sie weiß nicht, was sie jetzt zu erwarten hat, aber Hoffnung ist wie Staub: Sie geht nie hundertprozentig weg und wenn doch, dann ist hundertprozentig schon nach ein paar Minuten wieder neue da.
Dalia beugt sich nach vorn, schlägt die Arme um ihre angewinkelten Beine, klemmt den Kopf zwischen die Knie und beschnüffelt ihren Schritt, fühlt sich kurz wie ein Tier dabei, aber nicht ganz: sie schämt sich noch. Sie schämt sich vor Stephan, dass sie sich in die Hose gemacht hat, schämt sich vor sich selbst, dass sie vor ihrem Entführer Scham empfindet. Und sie stinkt. Sie stinkt unerträglich.
Mit sich selbst beschäftigt, bemerkt Dalia es zunächst gar nicht, als Stephan wieder den Raum betritt. Er räuspert sich und sie erschrickt, hebt den Kopf und blickt in ein verheult grinsendes Gesicht. Und dann erst auf das Küchenmesser in seiner rechten Hand.
Schreiend springt sie auf, reißt die Matratze vom Boden, hält sie sich vor den bebenden Körper. Aber ihre Arme zittern so stark, sie kann sie gerade so halten und weiß nicht, wie lange noch.
“Beruhig dich bitte, Dalia.”
Sie sieht ihn nicht mehr, aber seine Stimme kommt noch immer aus Richtung der Tür und ohne nachzudenken, stürmt sie - die Matratze als Schutzschild - auf ihn zu. Sie schreit, während sie sprintet, dann spürt sie den Aufprall. Ihr Kopf knallt gegen den Stoff, sie tritt einen Schritt zurück, die Arme weiter gegen die Matratze gestemmt, die jetzt zu fallen droht, aber Stephan kommt ihr zur Hilfe und hält sie mit ihr fest. Als Dalia das realisiert, rennt sie in die entgegengesetzte Richtung, schreit "Hilfe", rennt zu dem Tisch, auf dem ihr Essen steht, und wirft nach Stephan mit allem, was sie in die Finger bekommt, doch alles verfehlt ihn. Gerade als sie, zu Boden gebeugt, nach einer der Scherben einer Porzellanschale greift, umklammert Stephan ihr Handgelenk. Sie kreischt wieder, flucht, spuckt und schlägt sinnlos um sich, und solange sie das tut, macht Stephan nichts weiter als sie festzuhalten. Das Messer hat er in seiner Hose verstaut, damit er Dalia an beiden Handgelenken festhalten kann und ihren Tritten weicht er aus. Wenn ihn doch mal einer trifft, dann scheint es ihm nicht viel auszumachen, aber auch er muss doch irgendwann schwächer werden, denkt Dalia. Also macht sie weiter, bis ihr die Kraft ausgeht und sie denkt, wie dumm das war. Das, und dass sie die ganze Zeit schon die Möglichkeit gehabt hätte, eine der Scherben zu nehmen, dass sie das hätte tun können, als sie hier unten alleine war, um Stephan damit zu überwältigen, sobald er den Raum betritt. Wenn das hier ein Film wäre, denkt sie, oder ein Roman, dann würde jeder denkende Mensch den Kopf schütteln über die Dummheit der Autorin: Wie unrealistisch, dass dieser Dalia das jetzt erst einfällt. Und noch viel unrealistischer, dass sie sich in diesem Augenblick darüber Gedanken macht, wie schlecht der Film wäre, in dem sie nicht mitspielt. Aber keiner dieser Nörgler wüsste, wie er im Angesicht seines bevorstehenden Todes fühlen, denken und handeln würde, und Dalia weiß auch nicht, wie sie zu fühlen, zu denken oder zu handeln hat.
Sie tritt weiter mit schwachen Beinen, als Stephan sie zu Boden drückt. Als sie nur noch ihren Kopf bewegen kann, spuckt sie ihm ins Gesicht, das gelingt ihr nicht, ohne dass sie dabei auch sich selbst bespuckt. Stephan verlagert sein Gewicht auf ihr, dann nimmt er ihren Kopf zwischen seine Hände und kurz denkt sie, er lächelt schon wieder, doch er weint und sein Gesicht ist zu einer widerlichen Grimasse verzerrt. Er weint wie ein kleiner Junge und die Rotze trieft ihm aus der Nase in Dalias Gesicht.
“Ich will dir doch gar nicht wehtun”, schluchzt er. “Ich will nur nicht, dass du irgendjemandem was erzählst.” Und als Dalia für einen Moment zu lang die Augen schließt, spürt sie etwas kaltes, spitzes an ihrer Zunge.
Stephan lässt das Messer fallen und hält sich die Ohren zu. Er hat bereits einen Tinnitus von Dalias Gekreische, doch jetzt hat sie erst ihren Höhepunkt erreicht. Es braucht einen Moment, bis er wieder zu sich kommt, dann stellt er sie mit einer Kopfnuss ruhig, greift erneut nach ihrem Kopf und dem Küchenmesser und diesmal trennt er ihr ohne zu zögern die Zunge ab.
Beide schnappen nach Luft in diesem Moment.
Stephan hätte nicht gedacht, dass er das einfach so tun könnte. Noch auf dem Weg zurück in den Keller war er unsicher, wie das hier verlaufen sollte. Er hat zuvor noch eine Zwiebel geschält, um seine Augen zu reizen, und sich ein paarmal auf die Zunge gebissen. Er hat gehofft, dass er ruhig mit Dalia reden könnte und dass es leichter für sie wird, wenn er den Eindruck erweckt, dass auch er unter der Situation leidet. Früher wäre das bestimmt so gewesen, aber er ist ein bisschen abgestumpft in den letzten Wochen - das passiert vielleicht ganz automatisch, wenn man Menschen gegen ihren Willen in einem Keller festhält.
Mit einem seltsamen Stolz auf sich selbst blickt Stephan auf Dalia hinab. Der Schmerz scheint sie in Ohnmacht versetzt zu haben oder sie stellt sich tot, was auch immer das bringen soll.
Stephan schlägt noch eine Weile mit dem Messer auf Dalias Handgelenke ein, aber er ist gar nicht mehr ganz bei der Sache, während er das tut. Auch als er sie unter sich wieder zappeln spürt, bleibt sein Blick auf die Farbkleckse auf der Wand gerichtet und sein Fokus nach innen. Er denkt mit Zuversicht an den nächsten Tag, und an die Tage danach. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas Grundlegendes in seinem Leben außerhalb dieses Kellers sich verändert, wird geringer. Er macht sich schon jetzt keine Sorgen mehr.
Zufrieden mit sich, drückt er das Messer mit einem Ruck in Dalias Hals, schiebt noch ein Stück nach, bis er auf einen Halswirbel trifft, und steht auf, bevor ihm die Beine einschlafen. Ein wenig erschöpft ist er, als er seine kleinen Schritte durch den Keller zieht, doch auch seltsam wach und verwirrt. Auf eine solche Nacht bereitet einen ja niemand vor, aber Stephan findet, dass er sie dafür ganz gut gemeistert hat. Und während er Dalia beim Ausbluten zusieht, geht er im Kopf noch einmal die Unterrichtspläne für den kommenden Tag durch.
Als Stephan den Keller verlässt, zwitschern die ersten Vögel schon. Er putzt seine Zähne unter der Dusche, schmiert sich hastig ein paar Brote, schlüpft in die festen ledernen Schuhe und tritt hinaus in den nebligen Morgen. Er kauft sich einen schwarzen Kaffee im Kiosk gegenüber der Kirche, tritt beinahe auf eine kranke Taube, die vor ihm über den Zebrastreifen humpelt, und als er vor dem Bahnhof mit einem Fuß in einer frischen Urinpfütze landet, beschließt er, dass er nach Weihnachten ein neues Auto kaufen wird. Dann blickt er auf seine Uhr: noch acht Minuten. “Entschuldigung, könnte ich vielleicht eine Zigarette haben?”, murmelt er in den Rauch, den er eben noch im Nacken gespürt hat, und zwei warme Augen lächeln ihn an. “Selbstverständlich”, antwortet eine sonore Stimme und Stephan blickt hinab auf die Zigarette, die winzig aussieht in der fleischigen Pranke seines Gegenüber.
Mit dem zweiten Einsetzen des Schulgongs erreicht Stephan das Klassenzimmer. Er kontrolliert die Anwesenheit, er ermahnt Schüler, die sich um mehr als zehn Minuten verspäten. Dann schlägt er das Biologiebuch vor sich auf und fragt lächelnd: “Möchte jemand freiwillig die Hausaufgabe vorlesen?”
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