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Die Marionetten von Pompeji


Der rotschweifige Komet, der das Ende der Welt einläuten sollte, ist wie vorhergesagt an unserem Planeten vorbeigezogen und hat den zurückbleibenden Familien der 39 Toten die Apokalypse gebracht. Sie strebten das ewige Leben im outer space an, befreit von der Welt, auf der sie nicht mehr wandeln.


Eine Sammlung gut gepflegter Sciencefiction-Literatur geht für 350 Dollar weg und die beiden schwarz gekleideten Bieter verziehen die Miene nicht einmal zu einem gut gemeintem Siegeslächeln. Sie sind unter uns die mit Abstand ernstesten Gestalten; die anderen sind zu Späßen aufgelegt oder halten sich gefasst. Die Schaulustigen sind aber eine ausschließlich schweigsame Menge, zu der ich auch gehöre. Man weiß nicht, ob man Respekt haben soll oder nicht. Man ist nicht hier, um Respekt zu zollen. Man beneidet die, die sich getraut haben, mit einem Kaufvorhaben herzukommen, man beneidet sie und wundert sich doch. Und jeder wird sich seine Erklärung, hier zu sein, zurecht gelegt haben.


Der helle Lichtpunkt im Kometenschweif, ihr Seelengefährt, stellte sich recht zeitnah als Stern heraus, doch das Zeichen von der ganzen Welt aus zu sehen, war gesetzt und die Uniformen waren genäht, um an Bord zu gehen. Sie glaubten daran, ihren Platz zu erhalten, gereinigt, kastriert, schließlich körper- und besitzlos, von Welt und Sünde befreit, diesem zufälligen, untergangsgeweihtem Gemisch, auf dem sie nicht mehr wandeln. Die Welt wird bei anderer Gelegenheit enden.


Die Stereoanlage ist so gut wie neu, der VHS-Player hat alle Folgen von Star Trek und Akte X!. Aber ich habe keine Bieternummer. Jemand wird schon seine alltagsmorbiden Freuden haben. Die Autos gehen hochpreisig weg, scheinbar für ein zukünftiges Filmset, aber da gibt’s noch nichts konkretes, keine Produzenten, keine Casting-Liste, also eigentlich nur die Autos, also eigentlich noch gar nichts. Werkzeuge, Küchenutensilien, Töpfe, Besteck, Staubsauger, die Kärtchen heben sich in einem zurückhaltendem Wettstreit. Es geht schneller als erwartet. Die Dinge verschwinden, als wären sie niemals da gewesen. Mir wird schlecht.


„Zeug ist Zeug.“ Und Zeug ist Geld. Manche sind bereits gegangen. Entweder, weil sie gefunden haben, was sie wollten, oder weil man das Unbehagen nicht mehr ausgehalten hat. Man glaubt zwar nicht an Geister – und erbt bereitwillig das Geschirr der Großmutter – aber das hier ist anders. Und die anderen, wir zurückgebliebenen Erdbewohner, suchen nach Gelegenheiten, das Zeug und nur das Zeug, online weiterzuverkaufen und die Wartezeit auf Armageddon erträglicher und unerträglicher zu machen. Wir müssen uns nur sagen, das Zeug sei auch wirklich nur Zeug, dann wird es gehen, nach einigen mentalen Desinfektionsübungen.


Sie glaubten wirklich daran, sie glaubten daran und lächelten und lachten, wie wirklich befreite Seelen. Sie waren vorbereitet auf das Unvorbereitbare. Handschriften und Zeichnungen werden nicht versteigert, sie gehen an überlebende Kultmitglieder. Es gab im Voraus eine gerichtliche Einigung. Man wundert sich.


„Eine verpasste Chance, richtig Kohle zu machen.“ Man will wissen, was sie dachten, was sie dachten zu wissen, was sie glaubten zu denken im Angesicht ihres erhellten Führers. War er es, der sie zudeckte mit violetten rechteckigen Totentüchern? Wer war es, der ihnen die Schuhe auszog? Die Schuhe, haben sie den Toten ihre Nike-Schuhe ausgezogen, die nun als Symbol eines verklärten Gefolges in die Geschichte eingehen? Ein Museum konnte sich bereits einige Exemplare sichern. Haben sie den Toten ihre Schuhe ausgezogen, in Kisten gepackt und nun stehen diese Kisten zur Abholung bereit? Hat er ihnen die Augen geschlossen? Ihnen gesagt, bis gleich, wir sehen uns an Bord. Die Memorabilien werden wie die Überreste Heiliger behandelt, nicht aber in sakralen Bauten aufbewahrt, sondern auf Ebay versteigert und hätten wir Zugriff auf ihre Leichen, ja dann würden auch ihre Leichen versteigert, noch in Uniform, noch in Montur, uns überlassen. Sie würden sich zersetzen, während sie in ihrer höheren Ebene des Seins das Nichts aus erster Hand erleben. Und neben ihnen, da lagen Taschen mit dem Notwendigsten, was man im Weltraum braucht, jedem 5 Dollar, jedem einen Gruß in die baldige Zukunft, unnützes Proviant.


Und doch mussten sie ganz irdisch gehen, mit einem Gesöff aus Apfelsaft, Alkohol und Barbituraten, einem ganz irdischem Gesöff in irdischen Schuhen, in irdischen Leibern, dem irdischen Tod nicht entgehend, dem Universum nicht näher oder doch aufgenommen, doch irgendwie aufgenommen in einem wahnwitzigem Trost der Erzählung, dass sie es doch geschafft haben, dass sie doch unterwegs sind und die tränenden Perseiden ihre galaktischen Grüße sind. 39 to beam up.


120 Dollar für ein Feldbett, in dem man die Toten gefunden hatte. Es wird stiller im Saal, 120 für ein Feldbett. Die begehrtesten Stücke, weil dem Tod näher als jeder andere Gegenstand. Ein Museum wird einen eigenen Raum für den größten Massenselbstmord der US-Geschichte einrichten, die Villa des Geschehens wird abgerissen werden. Die Sterne werden noch für ein paar tausend Jahre glühen, längst erloschen, noch unserer Art ein Licht sein, die Feldbetten werden zu ikonischen Aufnahmen einer Menschheit, die wenige Jahrzehnte zuvor das Erklimmen des staubigen Mondes bestaunte und damit neue Faszinationen gebar. Das Universum wurde zum unerreichbaren Handlungsraum und gleich verklärt zum wirklichen Reich Gottes, zum Ort der Bestimmung, zum unbestreitbaren Platz unserer Zukunft.


120 Dollar nur. Man wird zur Attraktion, zu einem Namen an einem Datum auf einem Stein über und unter anderen Namen, über die sich ein schluchzender Kopf beugt mit Blumen in der zerknüllten Hand, man wird zu einer Schlagzeile, zu einem Preis, einem Angebot, einer Bemerkung auf Internetseiten, zum Forschungsgegenstand einiger Sektenforscher, zum eingerahmten Bild auf der Kommode, ein fragender Fingerzeig der nächsten unwissenden Generation. Man spricht den Namen und warnt. Sie wollten Erleuchtung und sie wollten das ewige Dasein in neuer Gestalt. Doch noch 140 Dollar von da drüben; es zeigt sich uns unsere Dunkelheit, es zeigt sich uns unser Abgrund, unser zersetzender irdischer Pragmatismus unter einem uns unsichtbar gewordenen Sternenhimmel, nach dem sie sich sehnten.


„Ja sehen Sie es pragmatisch, ich brauch nen Grill und der hier ist so gut wie neu.“

„Gehen Sie mal in nen Secondhandshop, 90 % Zeug von Toten.“

„Was ein Haufen Verrückter.“ Jetzt ist's ein Haufen Toter, ja. Eingeschlafen Hand in Hand oder vergangen in krampfenden Todeskämpfen, mit einem letzten glückseligen Gedanken oder der Erkenntnis ihres Verschwendetseins für einen irr starrenden Führer?


Haben sie in den Sternenhimmel geschaut und sich gedacht, ich lasse den Wind zurück, der durch die Wipfel der Bäume rauscht, und gemeinsam mit den violetten Wolken den Exitus des Tages ankündigt, lasse die konzentrischen Kreise zurück, die ein Stein hervorruft, wenn er ins Wasser fällt. Die konzentrischen Kreise meines Denkens um eine Frage, die das Universum für mich hält und nie beantworten wird. Haben sie in den Sternenhimmel geschaut und sich gedacht, was ist das Weinen und Lachen und Sträuben, das Knirschen und Zischen und Lieben und all das irdische Getue im Angesicht meines Auftrags?


Haben sie geglaubt, dass es dort herrlicher sein könnte. Die Schwärme zurücklassen, die grün schimmernden Käfer in den großen Blüten, den Regenbogen über den Rosen aus einem Wasserschlauch geworfen, den Schweiß auf der Stirn, den Finger des Kindes, das erhellt und wissend zu den Sternbildern hoch zeigt, die Muscheln, die an den Strand gespült werden, die Wellen, die schäumenden Spitzen, die sich zurückziehen wie von der Mutter heim gerufen, die Mutter, die aufspringt, die Kerze, die abbrennt, den stinkenden Mulch, aus dem sich der Tomatenstrauch erhebt, die schnurrende Katze, die vergeudeten Stunden, die drängenden Fragen, die uneingelösten Versprechen, den Schmerz, den einzigen Schmerz, den nur das eine Leben bereithalten kann, die verpassten Chancen, das geplatzte Glück, weiter schwimmen als zuvor, den rauschende Atem am Gipfel des Berges, am Wipfel des Baumes ein Ballon, der sich verfangen hat, eine Blume, gerade noch hier sein und dann nie wieder, eine Verwechslung, eine Fälschung, ein Licht, das sich immer wieder und wieder verändert, das Beruhigen der Kreise auf der Seeoberfläche, der ewige Wechsel, der ewige Traum, der Honig, der einem den Mund zuzieht, der bittere Kaffee und der bittere Tee.


Zeug ist Zeug. Und Zeug ist doch Leben, und sie wollten doch leben, ja sie glaubten, weiter leben zu können und zu dürfen und ein besseres Leben zu finden. Sie sagten sich, sie würden sich gleich wieder sehen, sie tranken das Gemisch und schlossen die Augen in der Hoffnung. Haben sie in den Sternenhimmel geschaut?


Die Vorhänge waren zugezogen und die Rollläden runtergelassen. Über die Augen ein violettes Tuch.

Das eingenommene Geld wird an die verbleibenden Familien übergeben werden. Etwas mehr als 30.000 Dollar. Ein Museum wird einen eigenen Raum einrichten zur Thematik, die Villa wird abgerissen werden, es wird zum Todestag Berichte bei den Fernsehsendern geben, einen Schrein, einen Kult des Kults, schweigende überlebende Stimmen unter demselben Himmel, in den sie sich zu schicken glaubten. Die Familien müssen es wirklich denken, sie müssen wirklich denken, sie haben uns hier unten zurück und allein gelassen.


Die Erde wurde nicht wie angekündigt, erhofft und befürchtet, recycelt. Aber das, was zurückbleibt, ist sicher aufgehoben im Umlauf der Interessierten. In unseren Händen wird ihr Zeug zu Zeug eines anderen. Die Auktion wird mit einem Schweigen beendet, gefolgt von den Fragen der Journalisten an die Teilnehmenden, die betäubt den Ausgang suchen. Der Komet wird voraussichtlich im Jahre 4419 zurückkehren.


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