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DICHTER LEIDEN : MASCHINENPOESIE

Später werde ich mich an diese Zeit erinnern als eine von großer Freiheit.

Die, als das Schöpfen aus den eigenen versponnenen Gedanken und das Umwandeln in Kreatives noch im Vordergrund stand. Als die einzigen Barrieren solche des Bloß-Noch-Nicht-Wissens schienen und die menschliche Urheberschaft von Kunst als gesichert galt. Als ernstzunehmende Sorgen um einen Broterwerb, der daran anknüpfen möge, in ferner Zukunft lagen und die Poesie von Maschinen noch keinen Eingang in unseren Alltag gefunden hatte.

Von heute aus betrachtet, hat dieses Später die Leichtigkeit der Gegenwart allzu schnell abgelöst.

"Kunst muss leiden, muss aus einem Leiden entspringen", behaupte ich, darauf zurückblickend. Ganz so, als ob das Verrinnen der Zeit notwendigerweise einen Schmerz beinhalte.

Damals, in den 2020ern, habe ich dergleichen nie gedacht. Nicht als die knapp zwanzigjährige Studentin, die ich war. Ich hätte mich nicht einmal als Künstlerin bezeichnet. Erst im Nachhinein, aus der verklärten Sicht der Mittvierzigerin, erinnere ich mich an diese Lebensphase als eine, die es mir erlaubte meiner schöpferischen Stimme, ungebremst durch die Kompromisse des Broterwerbs, Ausdruck zu verleihen. Zu dieser Zeit begann ich Gedichte, an denen ich zum Teil heute noch schreibe. Texte, von denen ich mich womöglich zurecht frage, ob der Poesie das viele Durcharbeiten überhaupt zuträglich ist.

"Deinen Gemälden", so behauptete ich es meiner Frau gegenüber unlängst, "steht es besser zu Gesicht, wenn ihnen deine langjährige Arbeit daran anzusehen ist." Und ich fuhr damit fort ihr Metier zu verklären: "Schicht um Schicht auf deinen Tableaus das Durchscheinen deiner früheren Auseinandersetzung, der Blick auf das Verworfene und Wiedergefundene... Das hat Charme!"

"Das würde ich nicht sagen", entgegnete sie, denn sie mag es nicht leiden, dass ich daran einen Unterschied festmache. "Egal ob Text oder Bild, die Anstrengung soll unmerklich bleiben", meinte sie. Und fand, bildende- und Dichtkunst hätten in diesem Punkt etwas Wesentliches gemein. Etwas, das über das Verzweifeln der Kunst an der Wirklichkeit hinausginge. Damit tue ich mir schwer.

Dabei ist mir dieser Schmerz, mit dem wir menschliche - und eben nicht lediglich humanoide - Kunstschaffende uns an der Welt aufreiben, doch so wichtig.

Das sprach ich eines Morgens laut aus. Und meine Frau unterstellte mir prompt, im falschen Jahrzehnt aufgewacht zu sein. Das mochte wohl sein, aber ich war mir wirklich nicht sicher, ob es sich um ein zurückliegendes oder ein noch vor mir liegendes Zeitalter handelte, in dem ich mich mit meinen Ansichten fand.

Und diese Frage hat schließlich durchaus ihre Berechtigung, denn auch die Zeit ist längst nicht mehr, was sie war, oder?

Meine Erinnerung jedenfalls scheint in die vorgesehene Richtung zu funktionieren. Denn ich erinnere mich an nichts Zukünftiges, aber daran, dass ich, wie die meisten Studierenden damals, kein Geld hatte. Da die Erträge meiner Nebentätigkeiten nie ausreichten, ging ich kaum einmal aus und nicht selten ergatterte ich meine Lebensmittel zu Schleuderpreisen auf dem Naschmarkt, kurz vor dem Schließen der Stände. Unter der materiellen Beschränkung litt ich allerdings nicht sonderlich. Irgendwie war es doch stimmig als Studentin so zu leben.

Unter meiner emotionalen Verfassung jedoch litt ich, selbst gemessen an meinem dafür berüchtigten Lebensalter, ganz kolossal. Es war ein fundamentales Leiden an der Welt, das mich beseelte. Meine vermeintlich besten Werke entstanden zu dieser Zeit. Solche lyrischer Natur, aber auch andere, die nur schwer zu kategorisieren waren.

Ich habe es versucht, es ist nicht möglich, mich dieses Aberglaubens zu entledigen, dass Kunst von Schmerz komme. Ich kann mich von dieser Idee nicht lösen, ohne gleich meinen Glauben an die Kunst selbst aufzugeben.

Dieses Vorurteil wurzelt unverschämt tief in meiner Familiengeschichte, vermute ich. Meine Urururgroßmutter hieß Romana Amon. Sie hat auch geschrieben. Unter den besten Voraussetzungen eigentlich, mit einem solchen Namen. Wenn auch nicht gerade die besten Voraussetzungen, was den Umgang ihrer Generation mit Kunstschaffenden weiblichen Geschlechts betrifft. Ich bin nicht sicher, ob sie auch diejenige Ahnin war, die einer verbotenen Liebe wegen ins Wasser gegangen ist, oder ob dies auf eine andere dieser Frauen zutrifft. Aber im Grunde ist es vermutlich einerlei, ob Romana Amon nur künstlerisches, oder zugleich auch Liebesunglück in sich vereinte, denn ziemlich sicher mache ich mir bereits etwas vor, indem ich versuche beides getrennt voneinander zu betrachten.

Meine Frau ist derweil am prosaischen Namen "Romana Amon" hängengeblieben und macht sich über mich lustig, als sie fragt: "Du meinst, ein Name kann bereits für ein gewisses Schicksal prädestinieren?"

"Freilich!" Darauf bestehe ich und habe keine Lust mich zu erklären.

"Das ist ja fast wie deine störrische These, dass Kunst immer einen Schmerz verdichte", sagt sie jetzt.

Touchée.

Ich muss zugeben, aber tue das ihr gegenüber natürlich nicht, dass mir selbst etwas bange ist vor dem Umkehrschluss. Hieße das denn, von einer gesicherten Position aus wäre genuine Kreativität ausgeschlossen? Stünde jedweder glücksbringende Erfolg dem künstlerischen Schaffen somit entgegen? Dürfte Kunst gar nicht erst Ware geworden sein?

Zu meiner Frau sage ich, und werfe ihr diese Worte hin, als wolle ich mir ein möglicherweise feindlich gesinntes Raubtier mit Fleischbrocken vom Leib halten: "Du kannst mich gern dafür auslachen, dass mein Gedicht gegen Geld in der Schwebebahn spazierenfährt, das nehme ich in Kauf." Natürlich will ich von ihr beschwichtigt werden. Aber weder lacht sie noch belächelt sie mich. Sie ist eben auch Künstlerin.

"Du flüchtest dich in die Dichtkunst", urteilt sie unvermittelt. Sie weiß, dass ich das nicht hören will.

"Natürlich", versuche ich ihren Einwand scharf auszubremsen.

"Wovor eigentlich?", fragt sie zu schnell, als dass ich mir eine passende Antwort hätte zurechtlegen könnte.

"Vor der Wirklichkeit meines Brotberufs, der Konkurrenz der Maschinenpoeten, was weiß ich."

"Du trauerst immer noch dem bedingungslosen Grundeinkommen nach." Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Feststellung von ihr ist, oder eine Frage.

"Ja, das tue ich", gebe ich unumwunden zu.

Und ich denke bei mir: "Leider gelingt der Blick in künftige Zeiten selten, also begnügen wir uns mit dem zurück. Notfalls aus der Zukunft, wenn das helfen kann."

In der folgenden Nacht träume ich von einem Maler, der auf die Hängung seiner Bilder an der Decke besteht. Mit dem Galeristen rennt er förmlich durch die Ausstellungsräume, als gelte es einen Schrittzähler mit Daten zu füttern. Hie und da wirft er seine Arme dem hohen Plafond entgegen, um anzudeuten, wo er welches seiner Werke sehen will.

Noch über das Aufwachen hinaus ärgere ich mich über die Impertinenz des bildenden Künstlers. Man stelle sich vor ein Dichter würde derart Ansprüche daran stellen, wie sein Lyrikband in der Buchhandlung zu präsentieren wäre. Oder eine Dichterin, gar!

An diesem Tag bin ich etwas niedergeschlagen. Auf eine Weise, von der ich aus Erfahrung weiß, dass daraus häufig Schöpferisches hervorgeht.

‚Eigentlich sind wir Kunstschaffenden doch alle grundsätzlich alleine‘, denke ich, und werde mir bewusst, dass ich erstens dabei nur an Menschen denke, und dass ich zweitens nicht einmal sagen kann, wie sehr das auch für bildende Künstler gilt. Sind sie alleine, auch wenn sie sich beispielsweise ihr Atelier mit anderen Künstlern teilen? Ich kann nur vermuten, dass die fundamentale Einsamkeit des Schaffensprozesses auch für die anderen Kunstformen gilt. Als Autorin lehne ich mich an form- oder sinnverwandtem Gedankengut an, erfahre Inspiration und nehme Einwände auf, aber ich bin auf mich gestellt, wenn ich schreibe. Und froh darüber.

"Ist nicht die Hauptsache, dass wir Menschen Urheber von Kunst bleiben?" Ich stelle diese Frage, obwohl sie längst von einem Tabu zu einem Klischee geworden ist.

In den 2020ern noch, schien es ausschlaggebend, darüber Gewissheit zu besitzen. Gerade weil diese Gewissheit uns da bereits zusehends schwand. Heute, inmitten der 2040er angekommen, ist die Urheberschaft längst die falsche Frage. Während wir damals fürchteten, dass Autorschaft durch Maschinenintelligenz und deren Einwanderung in unsere Gehirne auf dem Spiel stünde, so haben wir uns mittlerweile damit abgefunden, dass Maschinenpoesie ein Teil unserer Wirklichkeit ist.

"Das ist gar keine Kunst!", sagen manche. Manchmal ich.

"Ah. Was denn dann?", antwortet eine andere, die vielleicht meine Frau ist. "Wieso bitte, sollte nach deiner Theorie der ‚Kunst-kommt-von-Schmerz‘ weniger Leid erwachsen können aus dem fast-Menschsein, als aus dem Menschsein?"

Besser als gar keine Poesie, denken jedenfalls die meisten. Und das ist auch die Quintessenz meines und des Denkens meiner Frau zusammengenommen. Wenn man so will. Und meist wollen wir.

Ich selbst - so weit ich davon jenseits aller möglichen und unmöglichen Prothetik noch sprechen kann, bin mir nicht sicher, was ich von all diesen Entwicklungen halten soll.

Freilich, ich kenne die Fragen, die allerorts an die Wände geschmiert wurden. Und auch ich habe mich schon angstvoll gefragt, welche Berechtigung unser Klammern an humane Urheberschaft von Kunst hat.

Aber war unser Problem nicht vielmehr der enorme Konkurrenzdruck, der auf literarische Äußerungen entstanden war? Diese für die 2020er typische Verrohung der Inhalte, der Hang zu reißerischen Äußerungen? Womöglich.

Und dennoch. Es ist, als hätten wir es versäumt, uns zwischen einer angenehmen Dehnung unseres Weltbegriffs und bloßer Reizstimulierung zu entscheiden, wenn es uns um Kunst geht.

Was wir dagegen aufzubringen haben? Vielleicht nichts. Vielleicht alles.

Und wäre das Poesie?

Zumindest unseres Zweifels können wir uns sicher sein. Und haben nicht die meisten heilsamen Veränderungen unseres Weltgefüges mit einem Zweifel begonnen.


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