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DELILA




Eigentlich ist es ganz simpel. Zwischen den Rippen ziehen sich, Hau-Ruck, ein paar Muskeln zusammen und das Zwerchfell packt weiter unten mit an. So schaffen sie Platz im Brustkorb, okay? Dadurch erzeugen sie Unterdruck, verstehst du? Unterdruck. Das Prinzip kennst du doch. Denk mal nach, von einem Pömpel für verstopfte Abflussrohre, vielleicht, oder von einem dieser altmodischen Staubsauger mit Haltegriff kennst du das Prinzip doch. Wegen des Unterdrucks füllen die Lungen sich dann mit Luft und dabei dehnen sie sich aus. Einatmen, verstehst du? Anschließend quetschen die Muskeln die Luft einfach wieder heraus, wie Cremereste aus einer Tube. Ausatmen - genau! Danach geht das alles wieder von vorne los. Dabei brauchen die Lungen keine Hilfe, weißt du? Das machen die ja nicht erst seit gestern. Das machten die schon, als wir noch in den Bäumen saßen, Läuse fraßen und einander mit Scheiße bewarfen. Von ganz alleine machen die das. Die hören auch nicht einfach auf damit. Verstehst du das? Ob du das verstehst? Gut. Warum säuselt die Stimme aus deinem Kopfhörer dann immer noch “Einatmen” und “Halten” und “Ausatmen”? Mach dich nicht lächerlich. Du brauchst diese Stimme nicht. Deine Lungen brauchen sie nicht. Du bist ja nicht der Pionier der Lurche, der vor einer viertel Stunde als erster aller Arten aus dem Wasser gekrochen kam. Der musste die Luft noch mit viel Mühe runterschlucken, weißt du? Wenn der das mal vergessen hat: Gute Nacht. Damals waren der Evolution das Zwerchfell und die Rippen noch nicht eingefallen. Jetzt aber schon. Also atme einfach. Atme, Nik. Du kannst das.


In Zimmer 209 des Kranken- und Pflegehauses Maintal liegt das Surren von Elektrizität in der Luft. Ein medizinischer Apparat röchelt und piept und es riecht nach dem sauren Aufstoßen von Desinfektionsmittel. Im Beutel eines Tropfes, auf dem ein Etikett mit dem Namen “Sam<*> Weber” klebt, verringern sich flüssige Schlaf- und Schmerzmittel sekündlich. Du sitzt auf der Bettkante, krumm und erschöpft. Schweiß tränkt dein Hemd von den Achseln bis zum Hüftspeck, in den der Hosenbund ein Rautenmuster stempelt. Deine Augen hast du trocken geheult, du stinkst nach Furcht und Erschöpfung. An den Wänden werfen Kacheln das Licht der Leinwände zurück. Leinwände. Was glaubst du? Hat man den Namen aus demselben Grund behalten, aus dem man auch Liebesbriefe auf Papier oder das zerkaute Plüschtier aus Kindertagen aufbewahrt? Leinwände. Die wurden mal aus Leinen gewebt, wusstest du das? Weißt du noch, wie die sich anfühlten, bevor sie alle aus Kunststoff gemacht wurden? Leinwände. Ist doch komisch, oder? Früher sah man die nicht überall hängen, in öffentlichen und privaten Räumen, drinnen und draußen. Früher war das anders, erinnerst du dich? Früher waren da Glühbirnen, wo sie nun zu Zylindern gerollte Leinwände auf die Masten der Laternen gesetzt haben. Auch in den Fenstern verlassener Wohnungen und in Windschutzscheiben klebten die früher nicht. Weißt du nicht mehr, wie dunkel es einmal war ohne das ständige Flimmern? Weißt du das nicht mehr? Ist vielleicht auch nicht so wichtig, jetzt.


In der Ecke des Krankenzimmers hat man nicht eine, sondern gleich acht Leinwände unter der Decke aufgehängt. Du überschlägst im Kopf die Anschaffungskosten, verrechnest dich drei Mal und denkst dir, dass der Nutzen die Kosten schon rechtfertigen wird. Die Geräte verbrauchen kaum Strom, denkst du, und ohne das Flimmern würden die Patienten nervös werden, denkst du, und das würde die Heilung behindern, denkst du. Die formbaren Folien der Leinwände sind hier wie die Rispen der Weintraube arrangiert und von allen drei Betten im Zimmer einsehbar. Da nur ein Bett belegt ist, sind die meisten gerade ausgeschaltet und beinahe durchsichtig. Einzig ein rotes Leuchten im Kunststoff signalisiert ihre Bereitschaft. Zwei der größten Leinwände jedoch schlafen nicht. Die eine zeigt dir Gischt auf weißem Sand, Abendrot und Delfine im Wasser. Sie überträgt auch ihren Ton in deinen Kopfhörer: “Einatmen”, “Halten”, “Ausatmen”. Eine zweite zeigt Konsumvorschläge. Delila hat Güter ausgewählt, die du gebrauchen und bezahlen könntest: Strahlende Zähne beißen in einen Hamburger aus Algenprotein, balgende Kinder treten einen Welpen wie einen Fußball, Chrom glänzt staubfrei auf einem Massageroboter. Die Tonübertragung brauchst du hier schon lange nicht mehr. Dann und wann bewegst du die Lippen lautlos zu den Bildern und sprichst einen der Slogans auswendig mit. “Wauzi Wuff - der beste Freund des Menschen”, formen deine Lippen zum Beispiel. “Jetzt mit 72 Stunden Akkulaufzeit.”


Eine der kleineren Leinwände flimmert ebenfalls. Sie zeigt wieder und wieder dasselbe verwackelte Video. Ein Sondereinsatzkommando der Metropolpolizei stürmt gepanzert und bewaffnet in eine Elementarschule. Man sieht das Geschehen durch die engen Maschen des elektrischen Drahtzauns, der das Schulgelände vor Eindringlingen beschützen soll. Am Himmel kreisen Helikopter, im Erdgeschoss des Gebäudes zerplatzt ein Panoramafenster, auf dessen Scheibe die Kinder mit Farbe ihre Handabdrücke gepresst haben. Die winzigen Finger regnen als grüne, blaue und gelbe Scherben auf den Kunstrasen im Hof. Das Video ist nur vierzig Sekunden lang und die Kamera bebt in ungeübten Händen. Jemand hat den Vorfall durch Zufall beobachtet, im Streben nach Ruhm aufgezeichnet und ins Netz geladen, obwohl dafür ein hohes Bußgeld fällig wird. Obwohl jeder weiß, dass sowas die Ermittlungen behindert. Obwohl Fin Kreuzer von der Metropolpolizei dir videotelefonisch versprochen hat, die Medien würden euch bis zum Wochenende in Ruhe lassen. Nun summt es schon wieder an deinem Handgelenk und wieder leuchtet auf der Leinwand, die du dort wie einen Armreif trägst, eine fremde Rufnummer auf. “Delila, Nummer blockieren”, keuchst du, und der Kunststoff an deinem Arm wird wieder durchsichtig. Wieder überholt dein Atem die Ansage in deinen Ohren, wieder hörst du deinen Herzschlag trommeln. “Einatmen”. “Halten”. Und “Ausatmen”, erinnert dich die Säuselstimme. Es dauert diesmal Minuten, bis dir das Gehorchen gelingt.


Hinter der Krümmung deines Rückens wimmert im Schlaf nun das Kind. Du drehst den Hals zu hastig und ein heißer Schmerz glüht zur Strafe in deinen steifen Wirbeln. Das Kind hat im Fieber seine Decke aus dem Bett getreten. Das hast du bei deinen Atemübungen überhaupt nicht mitbekommen, nicht wahr? Nun flattern seine Lider im Flimmerlicht der Leinwände und der Mund murmelt Silben ohne Verwandtschaft. Trocken bröselt ihm dabei die Haut von den Lippen. Dem Kind hat der Schweiß die Salbe von den Schrammen gewaschen und wo eine Kugel ihm die Haut vom Fleisch gerissen hat, breitet sich rosarot Wundwasser auf dem Verband aus. ”Delila, Video 3 beenden”, sagst du der Leinwand an deinem Handgelenk und es wird augenblicklich dunkler im Zimmer. “Dan!”, wird das Träumen des Kindes da plötzlich zu Sprache. “Nein. Dan!”, wird da die Sprache plötzlich zu einem Brüllen. “Dan, Dan, Dan!”, brüllt sich das Kind jetzt im Schlaf die Stimme kaputt, wie die Kugeln ihm das Fleisch kaputt gebrüllt haben. Seine Finger greifen etwas im Traum, sie verkrampfen und wühlen sich spitz durch das Laken an der Auflage aus Naturgummi vorbei, zerren Brocken von Schaumstoff aus der Matratze heraus. Das Kind schreit und es tritt, bis das Bettgestell klappert, und reißt sich beinahe die Kanüle mit dem Schlafmittel aus dem Arm.


Was tust nun du, vom Wackeln einmal abgesehen? Was tust du gegen das Rasen und die Angst? Wirklich nichts? Dein Körper wird hart wie die Wirbel in deinem Nacken, alles an dir wird noch krummer und kleiner, allein die Augen bleiben beweglich. Sie pressen die letzten Reste von Flüssigkeit aus ihren Säcken und schwimmen darauf davon. Unter der Tür entdecken sie das Licht der Leinwände im Flur einen Spalt breit blau flimmern. Sie finden den Streifen wie einen Schimmer Hoffnung am Horizont. Du weißt, dass eine dieser Leinwände da draußen den Herzrhythmus des Kindes anzeigt, den Sauerstoffgehalt in seinem Blut, seine Atemfrequenz. Jemand wird auf die Leinwand schauen und kommen, vielleicht wird Delila auch jemanden rufen. Doch niemand öffnet die Tür und auch das Flimmern verrät dir nicht, wie ausgerechnet du einem neunjährigen Kind helfen kannst, auf das man mit einem Maschinengewehr geschossen hat. Ob du ihm einfach die Stirn küssen oder seine harte Hand weich streicheln kannst, ein feuchtes Tuch oder eine Ärztin holen musst, ob du ein Videotutorial anschauen oder ihm einfach deinen Kopfhörer ins Ohr stecken sollst - du weißt es einfach nicht. Darum glotzt du bloß heulend in das Flimmern und atmest ein und hältst die Luft in den Lungen und atmest aus, bis das Kind von ganz alleine nicht mehr brüllt. "Einatmen", sagt Delila in deinem Ohr, "Halten", sagt sie und: "Ausatmen". Du wischst mit dem Ärmel den Rotz von deinem Mund und drehst dich langsam zu dem Kind. Sein Gesicht ist noch immer ganz Faust, der Körper liegt verbogen, doch ruhig. Mit dem Daumen und dem Zeigefinger nimmst du eine der feuchten Strähnen so vorsichtig von seiner Stirn, wie du einen Fussel vom Mantel eines Unbekannten nehmen würdest. “Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir war”, sagst du und meinst nicht bloß den Morgen. “Es tut mir so leid.”


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Manchmal, wenn der Krampf deiner Augen sich löst und sie erschöpft in die Dunkelheit ihrer Höhlen rollen, schauen sie darin die Vergangenheit an. In manchen Nächten halten die Mantras und Tabletten, das Flimmern und Delilas Säuselstimmen sie nicht davon ab. Im Schlaf finden deine Augen Diskolicht und Tortenschlachten, die ersten Schritte des Kindes und Schwimmen ohne Schwimmflügel, seltener noch das Gesicht seiner Mutter. Tin. Häufig haben die Augen Mühe, alle ihre Einzelteile in der Finsternis zu finden. Ihren Namen aber buchstabieren sie immer noch richtig. Tin. “Sollen wir es nicht noch einmal ohne versuchen?”, fragte sie in einer Nacht, als eure Körper im purpurnen Widerschein eines Sexfilms flimmerten. Tin saß hinter dir, ihre Brüste lagen weich auf der Krümmung deiner Wirbelsäule und ihre nackten Arme und Beine umschlangen deinen Torso. “Sollen wir es nicht noch einmal ohne versuchen?” Ihre Frage war warmer Atem in deinem Nacken. “Warum nicht?”, sagtest du und dein Penis blieb schlaff auf deinem Schenkel liegen. “Heute?”, setzte Tin nach. “Nicht heute”, sagtest du, entkamst der Umarmung und nahmst den Helm vom Nachtschrank herab. ”Ein anderes Mal. Versprochen.” Du stülptest den engen Schaumstoff über deine Schläfen und klapptest die Leinwand vor deine Augen. Treu und gefolgsam erhob sich der Schwellkörper. “Dann ein anderes Mal”, sagte Tin leise, legte sich auf der Matratze zurück und schob ein Kissen unter ihr Becken.


So kam es, dass Tin die Mutter deines Kindes wurde, während Delila ihren Körper und ihr Gesicht durch Versatzstücke anderer ersetzte. Die Täuschung war beinahe vollkommen. Deine Hand berührte Tin, dein Schweiß tropfte auf Tins Brüste herunter, dein Glied steckte zwischen Tins Schenkeln. Doch zeigte Delila deine Hand auf fremden Wangen, deinen Schweiß auf fremden Brüsten, dein Glied zwischen dem synthetischen Rosa fremder Schamlippen. Einzig an den Kanten, wo das Fremde endete und das Bekannte begann, erahnte man den Schwindel. Einen feinen Streifen Licht, wie eine unsauber geschlossene Naht, konnte ein geübtes Auge dort bemerken. Deine Augen aber waren anders beschäftigt. Bevor deine Samen- und Tins Eizelle verschmolzen, schmolz zuerst ihr Gesicht, wurde sie schöner und berühmter. Als dein Glied trotzdem wieder erschlaffen wollte, formte Delila sie vor deinen Augen maskuliner, femininer, kindlicher, viel, viel älter, außerirdischer und zu vollkommen grotesken Gestalten. Das hätte dich wundern müssen, denn bei den letzten Malen hatte es genügt, wenn der Helm Tins Kopf durch den einer Schauspielerin ersetzte. Nun aber zuckte dein Glied erst, als ihr Brustwarzen aus den Pupillen und der graue Phallus einer Ziege aus dem Mund wuchsen, und er zuckte erneut, als ihre Brüste sich zu den Köpfen von Zwillingen verformten, die einander Urin in den Mund spuckten. Tin entstand für deine Augen immer neu und immer wieder und immer grenzenloser, bis dein Penis sich endlich entleert aus ihr und dein Schädel sich ebenso leer aus dem Helm zurückzog.

“Vielleicht würde es helfen, wenn du ihn auch wieder aufsetzt?”, sagtest du nach langem Schweigen. Ihr lagt nackt nebeneinander, zwischen euch trockneten Körpersäfte auf Papiertaschentüchern. Langsam kam dir die Scham aus dem Magen in die Kehle gekrochen. “Dachte, du findest das auch spaßig."

“Ja, zwischendurch mal zur Abwechslung, aber doch nicht immer”, sagte sie und fischte ihren Slip mit den Zehen vom Bettrahmen.

"Ich dachte, dir gefällt, was Delila für dich auswählt".

“Ich will aber nicht, dass Delila auswählt!", sagte sie und alle Leinwände im Zimmer erloschen. Seit Jahren war es nirgendwo mehr so dunkel gewesen.

“Was war das jetzt?”, fragte sie in der Finsternis. “Du hast ‘Delila, Aus’ gesagt”. Dein Grinsen konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen. Ob das Beben auf ihrer Seite der Matratze ein Lachen oder ein tiefes Schluchzen zur Ursache hatte, war auch für deine Augen unsichtbar. Rote Punkte glühten wie unerreichbare Sterne unter der Decke, ein einziger glühte hell auf dem Nachtschrank. Ohne das Flimmern war die Realität bloß Finsternis.

"Ich kann selbst auswählen, weißt du?", sprach sie endlich, als die Matratze wieder ruhig lag. "Ich scheiße auf Delila. Ich wähle selbst. Ich. Meine Entscheidung. Das ist ein Geschenk, Nik. Ich begreife nicht, wieso du dir das wegnehmen lässt.”


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Als du hart und verdreht zwischen zwei Stühlen erwachst, fällt Tageslicht grau durch das Fenster. Das Bett, in dem das Kind gelegen hat, ist leer. Jemand hat die zerstörte Matratze geholt und das zerstörte Kind mitgenommen. Der Lattenrost liegt verlassen und nackt auf dem Metallgestell. Eine der Leinwände zeigt kurze Animationsfilme für Kinder. Ein Känguru leert einen Benzinkanister über einem schnarchenden Dingo und kramt in seinem Beutel nach Zündhölzern. Eine weitere Leinwand zeigt Nachrichten in Text und Bild. Hastig überfliegst du die Schlagzeilen und atmest auf, als keine davon ein Schulattentat meldet und auch das verwackelte Video nicht wieder auftaucht. Fin Kreuzer scheint sein Versprechen zu halten. Eine dritte Leinwand präsentiert Delilas Auswahl von Mantren und beliebten Kurzvideos für den Tag. Du hängst dich über die Armlehne und tastest am Boden nach deinem Kopfhörer, der dir in der Nacht aus dem Ohr gerutscht sein muss. Du betest, dass der Wischroboter noch nicht da war, sonst wird Delila schon wieder einen neuen Stecker bestellen müssen. Schließlich werden deine Fingerspitzen fündig. Du pustest ein Haar von deinem Kopfhörer und stöpselst ihn wieder ins Ohr.


Delila hat heute eine kräftige Frauenstimme. "Guten Morgen, Nik", grüßt sie. "Wie geht es dir heute?" Auf deinem Handgelenk wählt dein Finger den roten Smiley aus. "Deine Wunden werden nicht heilen, wenn du nicht zugibst, verletzt zu sein", rät Delila. "Delila, zeig mir Bestärkungen”. Sofort fährt ein neuer Text über die flimmernde Leinwand. "Du bist robust. Du bist fähig. Du bist geliebt", liest die Frauenstimme vor. In dem Animationsfilm hebelt inzwischen ein Biber einem Bären das Auge mit einem Zahnstocher aus der Höhle und schmückt damit ein Cocktailglas. "Du bist schön. Du bist geliebt", fährt Delila in deinem Ohr fort. “Du bist genug.” Du schiebst dein Nachtlager aus Stühlen mit der Schuhsohle auseinander und stehst auf. Dein Körper knarzt wie morsches Holz und du ächzt, als du deine Glieder von dir streckst. Auf der Leinwand lässt eine Gruppe gehässiger Gänse Napalm über einem Fuchsbau fallen.


Die Tür, die gegenüber des Fensters zur Nasszelle führt, steht offen. Du hörst dahinter eine Stimme, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Vom Türrahmen aus siehst du das Kind nackt und gewaschen auf mintgrünen Kacheln stehen. Das bunte Flackerlicht der Leinwand kann nicht verbergen, dass es an Stellen blau, grün und rot ist, an denen Kinder im schlimmsten Fall dreckig sein sollten. Es starrt ausdruckslos auf eine Leinwand über dem Waschbecken, auf der gerade lichterloh brennende Füchse aus einem Erdloch türmen. Eine Pflegekraft kniet am Boden neben dem Kind und versteckt routiniert eine gesalbte Wunde unter Bandagenlagen. Die Pflegekraft sieht harmlos aus, trägt wenig Schminke und auf dem Kopf leiert ein riesiger Haarknoten eine medizinische Netzhaube aus. Nun verklebt sie das Ende des Verbands mit einer Sprühflasche. “Delila, Aufgabe erledigt”, sagt sie ruhig in ihr Handgelenk. Auf einer zweiten Leinwand in der gekachelten Zimmerecke können die Krankenakte des Kindes und eine Liste mit Aufgaben nachgelesen werden. Der Eintrag “Bandagen erneuern” verschwindet und eine neue Aufgabe rückt auf: “Vater über Anruf Fin Kreuzer (Metropolpolizei) informieren”.

An deinem Handgelenk summt es und Delila meldet schriftlich "Stef<an> / m / du”. In deinem Ohr klärt ihre Stimme die Aussprache: “Sch-teff”. “Guten Morgen, Stef”, sagst du zu der Pflegekraft, “Hey, Sammy”, sagst du zu dem Kind. Es starrt weiter teilnahmslos auf die Füchse, die sich gerade das verkohlte Fell von den Knochen reißen. Stef hingegen schaut von seinem Verband auf und lächelt. “Guten Morgen -”. Er wirft einen routinierten Blick auf seinen Armreif und sein Lächeln sinkt in den Winkeln ein Stückchen herunter. “Ach, stimmt ja!”, sagst du. Du schämst dich für dein Versäumnis. Natürlich wird in öffentlichen Einrichtungen erwartet, beim Betreten den internen Zugriff auf Anrededaten zu genehmigen. Delila hat die Freigabe gestern bei deiner Ankunft vorgeschlagen, doch warst du zu aufgelöst, um dich auch noch darum zu kümmern. Was soll’s. Dann eben nochmal so wie früher, was? “Nikolas Weber”, holst du dein Versäumnis nach und bietest Stef eine Hand an, die er aus Gründen der Sterilität nicht berühren wird. “Quatsch. Verzeihung. Nik. Nik reicht völlig. Männlich”, überholst du dich selbst.

Stef wartet geduldig. "Achso. Du. Du ist in Ordnung". Du ziehst die Hand wieder zurück und wischst den Schweiß an deiner Hose ab.

“Wie geht es dir, Nik?”, will Stef wissen und weil du die Frage diesmal nicht mit einem traurigen Smiley beantworten kannst, guckst du an ihm vorbei auf das Kind, das bloß da steht und starrt. Du zuckst mit den Schultern. “Hat Sammy mit dir gesprochen?”, fragst du. Stef schüttelt den Kopf. “Nein. Mit der Metropolpolizei vorhin auch nicht. Posttraumatischer Mutismus ist nicht unüb- Entschuldige, blödes Medizindeutsch. Will heißen: Es kommt vor, dass es jemandem die Sprache verschlägt, wenn so etwas Furchtbares passiert. Ich hoffe, dass eine psychiatrische Fachkraft-” “Was ist mit den anderen Kindern?”, unterbrichst du ihn und Stef gibt dir ein Handzeichen, das du nicht deuten kannst. “Ich bin gleich wieder bei dir, Sam”, sagt er sanft, nimmt einen Morgenmantel aus Frottee von einem Haken neben der Tür und legt ihn über die Schultern des Kindes. Dann verlässt er mit dir den Nassraum und zieht die Tür mit dem Ellenbogen hinter sich zu. “Die meisten waren tot, als unsere Einsatzkräfte an der Schule eingetroffen sind. Außer Sam haben wir drei Kinder hergeholt. Leider hat keines die Nacht auf der Intensivstation überstanden”, sagt er leise. “Die Kleinen waren völlig zerfetzt. Ein Schulattentat, mein Gott. Man kommt sich vor wie zur Jahrtausendwende. Es ist ein Riesenglück, dass Sam da lebend rausgekommen ist.”


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"Hallo?" Orangefarbene Fahnen hingen schlapp von Regalkanten. Zwischen den starren Falten in ihrem Stoff grinsten Biber in Arbeitskleidung auf dich herab. Noch höher über deinem Kopf fielen dicke Balken von Tageslicht durch Oberlichter. Staubflocken schneiten träge herab und trockneten auf dem Schleim deiner Atemwege fest. "Hallo?" Ein Hilfsroboter mit ausfahrbarem Greifarm erschrak und rollte hinter ein Lagerregal. Dahinter schepperte es und irgendetwas Schweres fiel zu Boden. "Ich schwöre, ich mache abstrakte Kunst aus dir, wenn du nicht aufpasst!", schimpfte jemand und der Roboter trillerte hysterisch. Eine junge Person, dem Anschein nach weiblich, trat in den Flur zwischen den Regalen. Sie hielt eine Bohrmaschine in der Hand. Am Handgelenk darunter konntest du keinen Armreif entdecken. Du merktest einen Schauer in deinem Magen, als du einen Augenblick zu lange auf die nackte Stelle schautest. "Entschuldigung", sagtest du. "Ich bin gerade nebenan eingezogen. Ich benötige handwerkliche Hilfe bei der Renovierung." Die Person mit der Bohrmaschine starrte dich groß an. "Sieht das hier für dich nach einem Dienstleistungsparadies aus? Wir verkaufen hier nix. Sag dem Ding an deinem Arm, was du brauchst, den Rest regeln die Postdrohnen. Handwerkliches Fachpersonal kostet extra. Bei Fragen rufst du in unserem Servicezentrum an." Du musstest grinsen. "Wie gesagt: Ich wohne hier gleich nebenan. Dachte, ich komme einfach mal rein. Also soll ich jetzt wieder rausgehen und von draußen hier anrufen?"

"Ja", sagte die Person mit der Bohrmaschine und dem nackten Handgelenk und musterte dich von Kopf bis Fuß. An deinem Grinsen blieb ihr Blick lange kleben. "Obwohl. Was brauchst du denn? Mach das doch selbst, da kannst du richtig Schotter sparen."

“Da hab ich zu viel Angst, mich aus Versehen umzubringen.”

“Unsinn!” Die Person kramte in der Bauchtasche ihres Overalls, friemelte an etwas herum und es schnurrte an deinem Handgelenk. “Kaiserin von China / w / Ihr, Euch” zeigte Delila an und dein Grinsen wurde ein Lachen. “Ich bin übrigens Tina, falls du danach gerade suchst”, sagte die Kaiserin von China, als sie einen transparenten Armreif aus ihrer Bauchtasche zog und Sägespäne vom Kunststoff pustete. “Kannst Tin sagen.”

“Ich bin Nik”, sagtest du. “Freut mich, Nik”, erwiderte sie, drückte sich den Bohrer auf das Herz und betätigte den Schaltknopf.

“Scheiße, bist du ir-”, riefst du aus, aber die Maschine durchlöcherte nicht ihre Brust. Sie gab bloß ein Störsignal von sich und zog den Bohrer in sein Inneres ein. Jetzt grinste Tin.

“Es ist so gut wie unmöglich, sich versehentlich das Licht auszuknipsen, Nik”, sagte sie. “Für den Fall, dass du hinterm Mond lebst, erklär ich’s dir gerne im Schnelldurchlauf. Abflussgranulat, Rattengift und Schneckenkorn werden seit ein paar Jahren mit Brechmittel versetzt, falls die mal einer mit den Cornflakes verwechselt. Früher gab es Einkaufstüten aus Plastik, heute ist sowas undenkbar. Die verpesten nämlich nicht nur die Umwelt. Damals hat die sich ab und an auch mal jemand über den Kopf gezogen, wenn er Langeweile hatte, weißt du? Außer in der Armee oder bei der Polizei hat niemand mehr Zugang zu Schusswaffen, die ohne Fingerabdruck-Scan oder Gesichtserkennung benutzt werden könnten. Fenster, aus denen man in den Tod stürzen könnte, lassen sich nicht mehr öffnen, Dächer und Brücken sind mehrfach gesichert. Selbst Küchenmesser verbinden sich inzwischen aus Sicherheitsgründen mit dem Netz. Wusstest du das? Küchenmesser. In Psychiatrien haben sie die Teile schon im Einsatz. Da wird die Klinge stumpf, wenn dein Armreif bemerkt, dass du sie auf den eigenen Körper richtest. Ach, und natürlich überwacht das Teil an deinem Handgelenk auch deine Schlaf- und Essgewohnheiten und schlägt sofort bei der Krankenkasse Alarm, wenn es eine Depression wittert. Glaubst du wirklich, da kannst du dich aus Versehen ausgerechnet mit einer Haushaltsbohrmaschine umlegen? Nicht einmal, wenn du wolltest, Nik. Glaub mir, die geben sich echt Mühe, dass finanziell flüssige Leute wie du und ich ihnen nicht hops gehen.”

“So dick hab ich’s jetzt auch nicht”, sagtest du.

“Du wohnst mitten im Speckgürtel”, sagte sie. “Höchstes Durchschnittseinkommen und niedrigste Rate von sogenannten selbstverschuldeten Unfällen in der Bundesrepublik. Guck mal nach Gelsenkirchen oder nach Dessau. Da hörst du ganz andere Geschichten. Offene Pulsadern, ein Familienvater, der sich mit einem Schnürsenkel am Dachbalken aufhängt, ein Toaster in der Badewanne. Solche Sachen, andauernd. In mehr als der Hälfte der Billigwohnklötze in Duisburg kann man auch im zehnten Stock noch problemlos die Fenster aufreißen. Kein Witz. Da gab's unabhängige Studien, kann man alles nachlesen.”

“Du bist ja richtig tief drin im Thema."

“Ich mach mir über sowas Gedanken”, sagte Tin. “Das sind doch alles strahlende Beweise dafür, wie wir als Gesellschaft ticken.” In ihren Augen funkelte eine Freiheit, die dir wahnsinnig aufregend vorkam. “Da geht's nicht um Menschen. Das einzige, was da wirklich zählt, ist die der Erhalt unserer Kaufkraft.” Sie hielt den Armreif vor sich und richtete die Maschine darauf. Als sie den Schalter betätigte, gab der Apparat wieder das Störsignal von sich und zog den Bohrer in sein Inneres. “Und der Erhalt unserer Götter.”


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Von den hohen Sichtbetonklötzen des Kranken- und Pflegehauses versteckt, erstreckt sich eingezäunt und videoüberwacht eine zugehörige Parkanlage mit Minigolfplatz, Freiluft-Spielcasino und See, auf dem man im Sommer Tretboot und im Winter Schlittschuh fahren kann. Bei gutem Wetter lohnt sich die Fernrohrfunktion der Leinwände, denn am Horizont kann man an solchen Tagen die beeindruckenden Turmbauten des Bankenviertels erspähen. Aus Lautsprechern, die man zwischen den Leinwänden verbirgt, tönen rund um die Uhr klassische Musik und Vogelgesänge. “Gerade die Alten, die man zum Sterben herbringt, profitieren von den attraktiven Freizeitangeboten. Die Angehörigen dürfen die nämlich kostenlos nutzen”, sagt Stef, doch du hörst ihm nicht richtig zu. Du hast eine Sitzbank gefunden und endlich eine Gelegenheit, deine Benachrichtigungen abzurufen. Stef nimmt das Kind an der Hand, dessen Kleidung man vom Blut bereinigt und an den Einschusslöchern gestopft hat. “Freedom” steht in bunten Buchstaben auf seinem grünen Pullover. “Komm, ich zeig dir die Enten. Die sehen aus wie echte!”, sagt er sanft und zieht das Kind hinter sich her zum See.


Delila setzt dich in Kenntnis, dass du in der Nacht neun Anrufe von unbekannten Rufnummern verpasst hast. Außerdem hat deine Schwester eine Videobotschaft hinterlassen. Du bist erleichtert, als du sie abrufst, denn Gab scheint von dem Vorfall in Sams Schule nichts gehört zu haben. Sie bereitet ein Gender Reveal-Fest für ihr ältestes Kind vor und fragt sich, ob Sechzehnjährige Rohkost spießig oder angesagt finden. “Schon Delila gefragt?”, antwortest du und verschweigst, wo du bist und warum. Die Sorge deiner Schwester würdest du nicht ertragen, nicht jetzt. Delila informiert weiterhin, dass die Postsendung mit erntefrischen Lebensmitteln in Bioqualität wie jeden Tag um 7.30 Uhr eingetroffen ist. Sie teilt dir mit, dass sie dich um 8.00 Uhr, um 8.30 Uhr und um 9.00 Uhr vergeblich erinnerte, die Lebensmittel ins Haus zu holen und zu verräumen. Sie teilt dir außerdem mit, dass sie zwei Lupinenkoteletts und eine Flasche Agavenlimonade, deren Haltbarkeit von der Kühlkette abhängig sind, um 9.30 Uhr zur Abholung durch die Obdachlosenhilfe Rhein-Main freigegeben hat. Sie informiert dich in dieser Angelegenheit abschließend, dass die Lebensmittelspende um 9.42 eingesammelt wurde und ein Video der Abholung bislang 62 deiner Abonnenten in den sozialen Medien begeistert. “Weiter so!”, sagt Delila. Auch dein Vorgesetzter hat dir eine Videobotschaft hinterlassen. Er trägt einen Anzug, doch über dem Schlips erkennst du am Hals eine feine, leuchtende Naht. Vermutlich hat er in Wahrheit ein fleckiges T-Shirt an und verzichtet auf die Hose. Auch er scheint nichts von dem Attentat zu wissen: “Grüß dich, Nik. Weiß, ist jetzt schlecht, wegen deinem Kind und so, gute Besserung, übrigens, musst mal erzählen, was es hat, hoffentlich kein Krebs, jedenfalls tut’s mir echt leid, uns allen tut’s echt leid, wie gesagt, hoffentlich kein Krebs, klopf auf Holz, aber Nik, hier brennt echt die Hütte, weißt du, deshalb, wenn’s passt, nur wenn’s passt, ich schick dir einfach mal ein paar Piktogramme für Phase 3 in dem Sternberg-Projekt zu, vielleicht passt’s ja, Nik, vielleicht passt’s ja und du kannst ein bisschen was wegarbeiten.” Delila teilt dir mit, dass sie die Dateien heruntergeladen hat. Sie teilt dir außerdem mit, dass das Kind zwischen 13 und 15 Uhr therapeutisch betreut wird und schlägt vor, die Arbeit dann zu erledigen. Deinen Vorgesetzten hat sie bereits informiert.


In der Ferne steht das Kind neben der Pflegekraft am Ufer und starrt ausdruckslos an einer Entenfamilie vorbei. Stef nimmt einen der Vögel aus dem Wasser. Er quakt und strampelt rührig mit seinen Flossen. Das Kind starrt bloß weiter auf die Wasseroberfläche. Du möchtest schreien, bis deine Stimme aufgebraucht ist. Zu allem Überfluss summt es da schon wieder an deinem Handgelenk. Delila zeigt eine fremde Rufnummer an. “Delila, Nummer blockieren”, sagst du und stehst von der Sitzbank auf. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Doch der Armreif vibriert unbeeindruckt weiter. “Blockieren von Anruf abgelehnt”, sagt Delila. Dein Atem beschleunigt sich, du glotzt die unbekannte Nummer an wie einen abwegigen Steuerbescheid, die rechte Braue bremst eine Schweißperle. Schließlich setzt du dich wieder hin. “Na gut. Delila, na gut.”, sagst du und dein Herz hämmert wild in deinen Ohren. "Anruf annehmen."


“Fin<n> Kreuzer / m / Sie” erscheint nun als leuchtender Schriftzug auf deinem Kunststoffarmreif, “Finn Kreut-ser”, sagt Delila in dein Ohr. Die Anrededaten verschwinden von der Leinwand, als ein bartloses Gesicht darauf sichtbar wird. Wie gestern trägt Kreuzer die graublaue Uniform der Metropolpolizei. Wo gestern jedoch eine Mütze saß, klebt heute rotbraunes Haar plattgedrückt am Schädel. An der Wand hinter ihm hängen Urkunden auf Papier und eine stolze Sammlung von antiquierten Schusswaffen. “Wie geht es Ihnen, Herr Weber?”, fragt er und wartet die Antwort nicht ab. "Hab gehört, dass Sam wieder auf den Beinen ist. Das ist gut. Das ist gut. Ich möchte Ihnen eines versichern, Herr Weber: Bei der Metropolpolizei werden wir nicht ruhen, bis die schuldige Person hinter Gittern ist. Das verspreche ich Ihnen, Herr Weber. Das verspreche ich. Wenn wir doch nur schneller dort gewesen wären...” Kreuzer blickt fern an der Kamera vorbei, sein Kiefer mahlt und unter den Schläfen treten Knochen spitz hervor. “Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, Herr Weber. Eine Wiedergutmachung, wenn Sie so wollen”. Er blickt zurück in die Kamera. Ganz genau kannst du es auf der kompakten Leinwand nicht erkennen, glaubst aber, dass seine Augen so gerötet und geschwollen sind wie deine. “Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sam uns helfen kann, die schuldige Person zu finden? Was, wenn ich im Gegenzug Sam helfen könnte, diesen schrecklichen Tag für immer zu vergessen? Wie wäre das, Herr Weber? Würde Ihnen das helfen?”


Seit dein Vorgesetzter Miete einspart und sein Team geschlossen daheim an der Leinwand arbeiten lässt, ist das Kind meist ohne dich mit dem Auto unterwegs. Nur gelegentlich fahrt ihr gemeinsam. Wenn ihr einen seltenen Ausflug in den Opel-Robozoo macht oder noch seltener Verwandte besucht, spielt ihr auf der Fahrt ein Spiel, um euch die Zeit zu vertreiben: Ihr nehmt die Kopfhörer aus den Ohren und sprecht die Slogans lokaler Unternehmen auf den Werbeleinwänden am Fahrbahnrand auswendig nach. Das Kind gewinnt immer. Es liebt eure gemeinsamen Ausflüge mit dem Auto. Seine Augen strahlen, wenn es dir zeigen darf, wie man das Reiseziel bestimmt, mit welchem Befehl man die Fußlehne ausfährt und wie man bei viel Verkehr den Sicherheitsgurt anlegt. Heute aber schweigt das Kind und starrt bloß aus dem Fenster, darum übernimmt Delila die Erklärungen. Sie informiert, dass die Fahrt zum kriminaltechnologischen Institut über die Stadtautobahn fünfundzwanzig Minuten dauern wird. Sie informiert, dass die Außentemperatur in der Innenstadt bei 14 Grad Celsius liegt und empfiehlt eine leichte Übergangsjacke. Delila wählt außerdem Unterhaltungsangebote aus, die auf der kurzen Fahrt betrachtet werden können. Auf deiner Fahrgastseite zeigt sie dir spaßige Videos von Unfällen mit Haushaltsrobotern. Du jedoch schaust nicht hin, sondern liest etwas auf deinem Handgelenk.


Auf der Leinwand der rechten Fahrgastseite zeigt Delila ein Bildungsprogramm für Kinder: Eine animierte Lehrkraft mit lustiger Halbglatze singt ein Lied über die finanzstärksten Unternehmen der westlichen Welt. Beim Refrain steigen die Schulkinder auf ihre Stühle und stimmen mit hohen Stimmchen ein. Das Kind stößt einen kehligen Laut aus wie ein verletztes Tier. Es schlägt den Hinterkopf gegen die Lehne, sodass ihm der Kopfhörer aus dem Ohr fällt und im Fußraum verloren geht. Diesmal handelst du schneller, als die Furcht dich lähmen kann. “Delila, Video 2 beenden”. Augenblicklich verschwinden Lehrer, Schüler und Klassenzimmer. Rechts wird die Windschutzscheibe klar und offenbart die asphaltgraue Straße dahinter. Du greifst nach der verkrampften Hand des Kindes, das immer noch keuchend vor- und zurückwippt. Mit der anderen Hand zeigst du nach draußen auf die riesigen Leinwände hinter den Leitplanken und sagst so ruhig du kannst: “Nur einmal täglich Dentodur - spart Zaster, Zeit und Zahnersatz!”, “Flink in Form mit Fitfux - jetzt fünfzig Filialen allein in Frankfurt”, “Wir blubbern nicht bloß - E-Fischbedarf Bonames, direkt an der Abfahrt B23”. Das Kind spricht die Slogans nicht mit und es berichtigt auch nicht deine Fehler. Doch langsam wird seine Hand weich in deiner, sein Körper schwankt nicht länger und nach einiger Zeit legt es seine Stirn an die Fensterscheibe und bewegt tonlos die Lippen.


Vom Nacken her schreitet Kopfschmerz voran, jeder Herzschlag schallt wie ein Hammer auf Metall in deinen Ohren. “Reiß dich zusammen, Nik”, sagst du durch gepresste Zähne und reibst dir die Augen mit dem Handrücken. “Reiß dich zusammen.” Das Kind starrt weiter aus dem Fenster, also wagst du wieder einen Blick auf deinen Armreif. Sams Hand behältst du in deiner. Fin Kreuzer hat dir nach eurem Videotelefonat ein Formular zugesandt. Du sollst es sorgfältig sichten und noch vor eurer Ankunft unterschrieben zurückschicken. “Delila, 0 auf 1 spiegeln”, sagst du und das Dokument erscheint auf deiner Hälfte der Windschutzscheibe. Du siehst Paragraphen, Belehrungen und Kleingedrucktes, doch auch vergrößert verschwimmen die Wörter vor deinen Augen und der Sinn versickert irgendwo im Dröhnen deines Schädels. “Ich, Nik<olas> Weber”, steht da, “dass bei dem Kind, Sam<*> Weber”, steht da, “nach Rasur des Schädels”, steht da, “auf Wunsch ohne Kopfklemme”, steht da, “zertifiziertes neurotechnologisches Personal”, steht da, “Routineverfahren”, steht da, “0,013 Prozent Komplikationsrisiko”, steht da, “Schluckbeschwerden, Sehstörungen, Hirnblutungen”, steht da, “Epilepsie, Lähmungen, Schlaganfall”, steht da. Eine Textstelle hat Fin Kreuzer neongelb hervorgehoben: “Ich bestätige, dass alle Erinnerungen an den Zeitraum zwischen 9:48 Uhr und 10:24 Uhr am genannten Datum restlos aus dem Gedächtnis von Sam<*> Weber entfernt werden dürfen. Ich bestätige weiterhin, dass ich die entnommenen Erinnerungen unwiderruflich an die Metropolverwaltung Rhein-Main übereigne. Ich bin einverstanden, dass die entnommenen Erinnerungen für metropolpolizeiliche Ermittlungen, sowie im Falle einer juristischen Aufarbeitung des Tathergangs vor Gericht uneingeschränkte Verwendung finden dürfen.” Zwischen deinen Fingern wird die Hand des Kindes ganz leicht, du drehst das Gesicht zu ihm und siehst, dass es mit der Schläfe am Fenster eingeschlafen ist. Für einen Augenblick entspannen sich seine Züge wieder zu denen eines Kindes, für einen Augenblick ist Gestern nicht gewesen, für einen Augenblick hast du dein Kind zurück. “Dan, nein”, murmelt es da plötzlich wieder im Schlaf. “Nein, Dan.”

“Delila, Dokument unterzeichnen”, sagst du und drückst die kleine Hand in deiner.


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Als das Kind aus dem Wasser im Leib seiner Mutter gekrochen kam, als es trotzig zu atmen begann und zu schreien, fiel der erste Schnee seit fünfzehn Jahren. Es waren bloß ein paar ausgefranste Flocken, die in Sekunden auf den Fensterscheiben zu braunen Tropfen schmolzen und die Wischroboter auf Trab hielten. Sie waren schon fort, bevor man den staunenden Mund wieder schließen konnte. Trotzdem nannte man den Schnee ein Wunder, genau wie man die Geburt des Kindes ein Wunder nannte. Die Mutter war nach dem Unfall hirntot erklärt worden. Fortan versorgten Schläuche sie mit Atem, Flüssigkeit und Nährstoffen. Pflegekräfte wuschen ihr zwei Mal in der Woche das Genital und trugen ihre Ausscheidungen davon. Man hielt den Körper am Leben, damit er dem wachsenden Menschen darin ein Biotop bleiben konnte. “Wir können nicht versprechen, dass das Kind durchkommt”, erklärte dir die juristische Fachkraft der Klinik. Sie ließ dich schriftlich versichern, im Falle einer Fehlgeburt auf einen Rechtsstreit zu verzichten. “Die Mutter ist schließlich ganz schön ramponiert”. Trotzdem: Am selben Tag, an dem der Himmel sich erinnerte, was Winter einmal bedeutet hatte, erinnerte sich auch der ramponierte Körper an die alten Gesetze der Natur. Auf einem Tisch welkten Blumenpräsente von deiner Schwester, Tins Vater und der Belegschaft des Baumarkts. Du saßt krumm und erschöpft auf der Bettkante, als es plötzlich schrill aus den Lautsprechern im Flur jaulte. Auf der Leinwand mit den Vitaldaten der Patientin hatte der Wert für den Durchmesser des Muttermunds die Acht-Zentimeter-Marke überschritten. Zwei Pflegekräfte verscheuchten dich vom Bett, rissen der Frau das Nachthemd über gebrochene Rippen und zerrten ihre Beine in unterschiedliche Richtungen. Eine Ärztin sagte "Dann wollen wir mal!" und brachte sich zwischen den Schenkeln in Position. Kurz darauf plätscherte Blut, später auch Kot und Urin. Ein Wischroboter kroch herbei und kümmerte sich gemächlich, aber beflissen. Draußen wirbelte der Januarwind die Schneeflocken durcheinander. “Es ist ein Wunder”, sagte eine der Pflegekräfte und starrte mit einem geschwollenen Bein in der Hand wie ein Kind aus dem Fenster heraus.


“Ein richtiges Wunder”, sagte auch die Ärztin, als sie dir eine halbe Stunde später das schreiende Kind in den Arm legte. Es hatte kaum Gewicht, aber wenn es seine kurzen verschmierten Glieder streckte, hattest du Mühe, es zu halten. Du schlucktest schwer. Am liebsten wolltest du das Kind zurückgeben, es der Ärztin oder einer der Pflegekräfte überlassen, die schließlich an einer Hochschule gelernt hatten, wie man Kinder versorgt. Du wolltest Delila um Hilfe bitten, aber das Kind lag auf deinem Handgelenk und Delila konnte dich nicht hören. “Ich hab Angst, dass ich es kaputt mache”, sagtest du, aber die Ärztin lachte nur und wiederholte: “Ein Wunder”. Dann wandte sich ab und murmelte “Delila, 32 bei Patientin 48c”. Alle Maschinen, deren Schläuche in den Körperöffnungen der Frau steckten, hörten augenblicklich auf zu röcheln und zu blinken. Auf der Leinwand unter der Decke wechselte das Programm. Sie zeigte nun keine Vitaldaten mehr an, sondern eine Produktwerbung für Stoffwindeln. Unter dem Bett verschluckte sich der Wischroboter an einem Brocken Plazenta und blubberte rote Blasen aus. Die Ärztin stöhnte. “Bringt die Frau fort und schickt jemanden vom Technikteam für die Putze hier rein”. Nun wandte sie sich wieder an dich. “Wenn Sie trauern möchten”, sagte sie, “kann Delila im Krankenhausnetz über den Befehl ‘Seelsorge’ ein Videogespräch mit einem christlichen, muslimischen oder konfessionslosen Zuständigen aufbauen. 'Seelsorge'. Versuchen Sie's mal, die machen gute Arbeit.” Dann verließ sie das Krankenzimmer. Die Pflegekräfte schoben das Bett mit dem leblosen Körper hinterher, damit man das Fleisch aufschneiden und die Organe in andere Leiber stecken konnte. “Ihr Name war Tin”, sagtest du leise zu dem Kind, das auf deinem Arm zu strampeln aufgehört hatte. Ganz heimlich stieg etwas in deinen Eingeweiden auf, das wärmer war als die Angst und nahe der Lungen nistete. “Und sie wollte, dass du Sam heißt.”


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Das kriminaltechnologische Institut ist ein graublauer Rundbau aus Stahl und Glas. In einem Springbrunnen auf dem Vorplatz planschen zwei nackte Kinder, deren Eltern zu geizig für die städtischen Bäder sind. Um den Brunnen herum zeigen meterhohe Leinwände teuer produzierte Imagefilme der Metropolpolizei. Nicht nur deshalb wird der Bereich um das Institut von den meisten Menschen gemieden. Auch ist das Glas an seiner Außenfassade verspiegelt und niemand erblickt sich selbst gerne ohne Filter. Beim Eintritt gibt Delila deine Anrededaten im hausinternen Netzwerk frei, auch weitere personenbezogene Angaben macht sie verfügbar. Sie informiert, dass einige Leinwände im Gebäude mit Überwachungsfunktion ausgestattet sind und Aufnahmen von dir gespeichert werden. Sie erinnert dich, dass dein Einverständnis dafür in Einrichtungen der Metropolpolizei nicht erforderlich ist und verliest den zugehörigen Gesetzestext. Ferner teilt sie mit, dass folgende ihrer Funktionen im hausinternen Netzwerk nicht verfügbar sind: Kamera, Mikrofon. Eine Beamtin (Mel<is> Taş / w / Sie, “Mel Tasch”) nimmt euch in Empfang. Sie hat Falten vom Lachen, einen breiten Dialekt und immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Als sie das Kind sieht, fällt ihr keiner ein.


Beim Betreten des gläsernen Lifts überquert ihr eine Lichtschranke. Sofort ertönt ein Warnton. Mel Taş blickt auf ihr Handgelenk und fordert dich freundlich auf, ihr deinen Gürtel mit der Metallschnalle zu übergeben. Sie murmelt etwas in die Leinwand an ihrem Handgelenk und der Lift setzt sich gemächlich in Bewegung. Auf der Fahrt in die Höhe kannst du das gesamte Foyer und die Galerien der oberen Etagen überschauen. Die Grauschattierungen der Stadt recken sich vor der Glasfront zum Zentrum hin immer höher und höher dem Himmel entgegen. Draußen im Springbrunnen hören die Kinder plötzlich auf, einander mit Wasser zu bespritzen. Auf den meterhohen Leinwänden sind unvermittelt unruhige Bilder von zornigen jungen Menschen erschienen. Sie halten bemalte Transparente in die Kamera, zeigen ihre Mittelfinger und entblößen ihre Hintern. Ein Elternteil springt über den Steinrand des Brunnens und bedeckt die Augen seines Kindes mit beiden Händen. “Was ist da los?”, fragst du Mel Taş, während ihr aus dem Fahrstuhl aussteigt. “Ei, des sin Studente”, sagt sie. “Die däffe hier onmal die Wuuch fernmündlisch geesche Polizeigewalt demonstrie’re.” Sie verdreht die Augen und du lächelst so schief, wie du immer lächelst, wenn du einen Witz nicht verstanden hast. Du siehst die wütenden Gesichter auf den Leinwänden an und fragst dich, ob du seit Tins Unfall überhaupt noch einmal über Politik nachgedacht hast. Bei Metropol-, Land- und Bundeswahlen entscheidet Delila inzwischen auf Grundlage deines Einkommens für dich, wo du dein Kreuz setzen solltest. Sie stimmt auch per Digitalwahl für dich ab, sodass du am Wahlsonntag ohne schlechtes Gewissen ausschlafen kannst. Mel Taş brummt nun etwas Unverständliches in ihr Handgelenk. Sofort werden vor allen Fenstern elektronische Jalousien heruntergefahren und die Sicht auf die Demonstrierenden versperrt. “So en Bleedzin tät ja konar boam Schaffe aushalte”, sagt sie.

Die Laboratorien und technologischen Arbeitsräume des Instituts liegen versteckt im fensterlosen Kern des Gebäudes. Mel Taş führt euch durch ein Labyrinth identischer Korridore aus Stahl, Beton und faserverstärktem Kunststoff. Ohne Gürtel musst du beim Gehen die Hose festhalten, schließlich hast du seit gestern nicht mehr gegessen. Unter euren Schuhen quietscht das Linoleum, die Luft sirrt, Leinwände strahlen grellweiß aus allen Winkeln. Im Vorbeigehen bemerkst du, dass in ihren Kunststoffherzen nicht eines, sondern zwei Signallichter grün blinken. Diese Kunststoffzuschnitte beleuchten nicht bloß, sie zeichnen auch ein Kamerabild auf. Viel gibt es in den Korridoren jedoch nicht zu überwachen. Hier und da steht ein verwaister Stuhl an der Wand, dann und wann begegnet euch ein Desinfektionsmittelspender, ab und zu seht ihr einen Wischroboter über den Boden kriechen wie eine silberne Nacktschnecke. Durch alle Flure geistert der Geruch von alten Kühlschränken. In die schweren Türen, die gelegentlich links und rechts auftauchen, hat man rechteckige Sichtfenster geschnitten. Im Vorbeigehen siehst du dahinter müde Menschen in weißen Kitteln, Naturgummihandschuhen und Mundschutz an Apparaten und Reagenzgläsern, hinter Leinwänden und vor Matcha-Automaten. Das Kind protestiert nicht, als du seine Hand nimmst, und schlurft abwesend neben dir her. Einmal niest es und du fährst zusammen, weitere Regungen bleiben aus.


"Gleich kons losgeh’e", sagt Mel Taş, als sie schließlich in einem Korridor stehen bleibt, der sich in keiner Weise von den anderen unterscheidet. "Aan Moment, gell, ich hol omal de Scheff", sagt sie, zieht die Tür zu eurer Rechten einen Spalt weit auf und zwängt sich hindurch. Aus der Öffnung dringen Geräusche, als würde man zwölf Filme gleichzeitig schauen: Gebrüll, das Dudeln von Videospielen, lachende Kinder, das Maunzen einer Katze, klapperndes Besteck, Weinen und Wimmern. Dann kratzt der schwere Stahl über das Linoleum, quietscht lange und unerträglich und poltert schließlich zurück ins Schloss.


Das Kind lässt deine Hand los, starrt einen Moment lang an die Decke und setzt sich schließlich ausdruckslos auf den Boden. Du wartest, gehst auf dem Flur auf, wartest, gehst auf dem Flur ab, wartest. Doch Mel Taş kommt nicht zurück. Die Zeit wird Kaugummi. Du blickst dich um, du wartest, du schaust auf dein Handgelenk. Du bemerkst, dass Delila kein Signal empfängt, wartest weiter, wirst unruhig. Du blickst auf deinen Armreif, wartest, blickst auf deinen Armreif, wartest. Dein Augenlid zuckt. Du ziehst mit der Kante deiner Schuhsohle einen schwarzen Streifen auf das Linoleum. Du wartest, hältst deinen Armreif in der Hoffnung auf Empfang in die Höhe, scheiterst, fluchst. Ein Wischroboter kommt träge angekrochen und fährt mehrmals feucht über dem schwarzen Streifen vor und zurück. Der Streifen verschwindet. Der Wischroboter verschwindet auch wieder. Du wartest, schaust wieder auf dein Handgelenk, fluchst erneut und guckst schließlich durch das verglaste Rechteck der Stahltür in den Raum dahinter.


Das Labor ist in keim- und schattenfreiem Weiß ausgeleuchtet. Du siehst Mel Taş und eine zweite uniformierte Person mit Matchatassen in der Hand. Sie stehen mit dem Rücken zu dir an einem schmucklosen höhenverstellbaren Arbeitstisch. Zwei Laborkräfte in steriler Kleidung und mit Leinwänden auf Klemmbrettern in den Händen rollen auf Drehstühlen hin und her. Links und rechts des Tisches ragen gigantische Rechenterminals zur Zimmerdecke empor. Zahlencodes flackern über Leinwände zwischen Lüftungsschlitzen und Bedienfeldern. Durch eine riesige Glasscheibe können die vier Personen das Geschehen im benachbarten Raum überblicken. Der Anblick erinnert dich an die Dekorationen der Weltraumabenteuer aus der Zeit um die Jahrtausendwende. In den alten Filmen bestehen solche Scheiben stets aus Panzerglas und man kann den Raum dahinter bloß durch eine Luftschleuse betreten. In den alten Filmen werden darin außerirdische Lebensformen erforscht. Laborkräfte mit schwerem texanischen Dialekt nennen diese Räume zum Beispiel “Kontaminationskammer”. In den alten Filmen geht darin immer irgendetwas schief und alle sterben.


Einen Außerirdischen siehst du hinter dieser Scheibe aber nicht. Nur in Unterwäsche liegt im kalten Licht ein blasses Kind mit geschlossenen Augen auf einer Art Zahnarztstuhl. Du fragst dich, ob das Kind auch ein Opfer des Attentats ist, doch erscheint es dir körperlich vollkommen unversehrt. Außerdem fällt dir ein, was Stef im Kranken- und Pflegehaus gesagt hat: Sam hat als einziges Kind überlebt. Das kurzgeschorene Haar des Kindes im Zahnarztstuhl schimmert kupfern unter einem zähflüssigen Gel, das man großzügig auf seinem Schädel aufgetragen hat. Wie die Saugnäpfe unsichtbarer Tintenfische bewegen sich runde Noppen aus Metall und weichem Kunststoff mit gemächlicher Präzision über seinen Kopf. Gurte fixieren seine Hand- und Fußgelenke an dem Metallgestell des Stuhls. Du schätzt, dass es in Sams Alter sein müsste.


Die halbrunde, hohe Wand hinter dem Kind ist über und über mit Leinwänden bedeckt. Die meisten zeigen ein rauschendes Störbild und du brauchst einen Moment, bis du die Regeln des bizarren Schauspiels vor deinen Augen begreifst. Immer, wenn die Signalleuchte auf einem der Saugnäpfe am Schädel des Kindes zu blinken beginnt, klärt sich das Bild auf einer der Leinwände. Was du darauf zu sehen bekommst, passt so wenig zusammen wie die Teile verschiedener Puzzles. Die Leinwände zeigen Wackelpudding und bunte Tapeten, Füllwatte, die aus aufgeplatzten Plüschtieren quillt, Sprechkäse in den brüllenden Mundwinkeln Erwachsener, eine graue Katze, die schreit, als eine kleine Hand ihr fest am Schwanz reißt. Deine Augen bleiben auf dieser Szene haften. Du erwartest, dass die unsachgemäße Behandlung der Katze einen Kurzschluss verursachen wird und Funken aus ihrem zerbrochenen Schwanz sprühen. Als das Tier jedoch im Affekt türmen will, bleiben Fell und Haut des geschälten Schwanzes zwischen den kleinen Fingern zurück. Funken siehst du nicht, nur Blut. Die uniformierte Person neben Mel Taş stellt ihre Matchatasse ab, nickt und dreht sich um. Du erkennst Fin Kreuzer und als er sich der Tür zuwendet, bist du schon längst aus dem Sichtfeld verschwunden.


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Deine Erleichterung wirst du niemals verstehen, deine Erleichterung wirst du niemals verzeihen. Sie kam und sie ging so schnell wie ein Schreck. Sie nahm der Sorge, dem Schmerz und der Wut nicht lange den Raum. Sie dauerte nicht an. Und trotzdem: Als Delila an deinem Handgelenk summte und dich über den selbstverschuldeten Unfall unterrichtete, war himmelblaue Erleichterung deine erste Erwiderung. Selbstverschuldeter Unfall. So nennen sie, was passiert ist, weil die Wahrheit nicht mehr Teil der Wirklichkeit sein sollte. “Selbstmord haben die aus ihrem Wortschatz gestrichen”, hätte Tin vermutlich dazu gesagt und du hättest vermutlich die Augen verdreht. “Weil Selbstmord bedeutet, dass der freie Wille manchmal doch mächtiger ist als ihr scheiß Algorithmus.”


Es war reiner Zufall, dass die Fenster im Wartezimmer ausgetauscht wurden, als Tin in Begleitung einer psychiatrischen Fachkraft eine viertel Stunde zu früh zum Geburtsvorbereitungskurs in der gynäkologischen Praxis erschien. Der leitende Arzt beteuerte vor Gericht, die Glaserei habe den Aus- und Einbau ausdrücklich außerhalb der Öffnungszeiten erledigen sollen. Seine Verteidigerin legte den unmissverständlichen Schriftverkehr zwischen Glaserei und Praxis zum Beweis auf einer Leinwand vor. Der Glasermeister beteuerte vor Gericht, der Handwerkeralltag sei nicht immer so minutiös planbar, wie ein Frauenarzt sich das vielleicht vorstelle. Die Richterin sprach eine Verwarnung wegen diskriminierenden Sprachgebrauchs aus und der Glasermeister entschuldigte sich. Der Handwerkeralltag sei nicht immer so minutiös planbar, wie ein Gynäkologe sich das vielleicht vorstelle, korrigierte er. Termine hätten sich verschoben und mit so etwas habe ja nun wirklich niemand rechnen können. Sein Verteidiger legte zum Beweis einen Ausschnitt aus dem sehr vollen Terminkalender des Glasermeisters auf der Leinwand vor. Die Auszubildende des Glasermeisters beteuerte vor Gericht, sie habe die Frau aufhalten wollen, doch sei alles viel zu schnell passiert. Die Frau sei in Begleitung der psychiatrischen Fachkraft durch den Fadenvorhang in das Wartezimmer eingetreten und habe freundlich in die Runde gegrüßt. Dann müsse sie wohl das fehlende Fenster bemerkt haben und sei einfach losgerannt. Es grenze an ein Wunder, dass sie zunächst auf der Markise der Salatbar im Erdgeschoss aufgekommen sei und nicht direkt auf dem Kopfsteinpflaster. Der Verteidiger des Glasermeisters zeigte zum Beweis auf der Leinwand ein Überwachungsvideo der Straßenlaterne gegenüber. Die psychiatrische Fachkraft, die Tin zum Termin in der Praxis begleitet hatte, beteuerte vor Gericht, nicht an die psychische Erkrankung der Patientin zu glauben. Sie würde seit zwanzig Jahren in diesem Beruf arbeiten und wisse genau, welche Formen so etwas annehme und welche nicht. Diese Frau sei ganz sicher nicht krank gewesen. Die Leinwand blieb schwarz und die Richterin ließ die Aussage der psychiatrischen Fachkraft wegen fehlender Relevanz aus dem Protokoll streichen. Sie entschied, dass der Glasermeister und der Gynäkologe eine symbolische Summe an die psychiatrische Klinik zu spenden hätten und beendete die Verhandlung mit dem Hammer. “Sie hat gelächelt, als sie sprang”, sagte die Auszubildende des Glasermeisters im Hinausgehen. “So eine irre Schlampe”, sagte der Glasermeister. Immer noch fassungslos über den zu spendenden Betrag spuckte er auf den Boden und lockte damit einen Wischroboter an.

"Was ist mit dem Kind?", fragtest du die zuständige Ärztin im Videogespräch. Doch noch vor der Sorge, dem Schmerz und der Wut war zuerst die Erleichterung dir himmelblau durch die Glieder gefahren. Verstehen kannst du das nicht. Verzeihen wirst du das nie.


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“Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Weber”, sagt Fin Kreuzer und lächelt matt. Mel Taş ist nicht wieder aus dem Raum herausgekommen. Der Metropolpolizist reicht dir seine Hand, die kalt ist und trotzdem verschwitzt. Seine Augen liegen tief in den grauen Schatten der Unrast, sein rotbraunes Haar ragt ungewaschen und ungekämmt unter der Mütze heraus. Er geht neben dem Kind in die Hocke. “Hallo, Sam”, sagt er und das Kind dreht den Kopf zu dir und nicht zu ihm. “Entschuldigung”, sagst du. “Sam ist ziemlich neben der Spur.” Fin Kreuzer tätschelt dem Kind den Kopf. “Das ist doch kein Wunder”, sagt er. Sam blickt dir weiterhin starr in die Augen. “Sie haben alles unterschrieben? Dann kann es von mir aus gleich losgehen. Morgen früh ist Ihr Kind wieder ganz das alte. Und wir sind der schuldigen Person ein Stück näher.” Er greift das Kind unter den Armen und hebt es auf die Beine. Sam lässt es geschehen und wendet den Blick dabei nicht von dir ab. “Ich komme mit”, sagst du, doch Fin Kreuzer schüttelt entschieden den Kopf. “Sie brauchen eine Mütze Schlaf, Mann. Und wahrscheinlich auch eine Mahlzeit. Und ganz sicher - bitte nehmen Sie es mir nicht übel - brauchen Sie eine Dusche. Morgen früh um 9 können Sie Sam wieder abholen. Vertrauen Sie uns.” Er öffnet eine Stahltür gegenüber und schiebt das Kind vor sich her hindurch. Träge und quietschend fällt sie zurück ins Schloss.


Lange stehst du bloß da und weißt nicht, wohin. Es ist still im Korridor, bloß die Elektrizität knistert in der Luft, bloß dein Blut rauscht in deinen Ohren. Schließlich hältst du es nicht mehr aus. Du trittst auf die Tür zu, hinter der du dein Kind zum ersten Mal allein gelassen hast, seit es allein aus dem Haus und zu den Schüssen gegangen ist. Durch das Rechteck siehst du, dass der Raum ein Zwilling des Labors gegenüber ist. Vor dem Arbeitstisch stehen Fin Kreuzer und eine Laborkraft. Sie spricht in ihr Handgelenk und wirft prüfende Blicke auf eine Leinwand, die sie auf einem Klemmbrett herumträgt. Hinter der Glaswand wird es hell und die roten Bereitschaftslichter der Leinwände beginnen zu flackern. Eine zweite Laborkraft führt das Kind zu einem Zahnarztstuhl und zieht ihm den grünen Pullover mit den bunten Buchstaben über Arme und Kopf. “Vorsichtig, bitte”, sagst du leise und denkst an die Schussverletzung. Sam schaut durch die Panzerglasscheibe, den Vorraum und das ausgeschnittene Rechteck in der Tür in deine Augen. Du schaust zurück und legst deine Hand auf das Glas. “Ich hab dich lieb” formen deine Lippen. Die Laborkraft nimmt ein elektrisches Rasiergerät aus einer Metallschublade unter dem Stuhl, ihr Naturgummihandschuh greift in das Haar des Kindes, bald fallen Strähnen davon auf seine Schultern herab. Sam hört nicht auf, dich anzusehen.


Hinter deinem Rücken öffnet sich quietschend eine Stahltür. Du drehst den Hals, an dem die Sehnen knirschen, und siehst Mel Taş davonhasten. Der Schritt ihrer schweren Stiefel hallt von den Korridorwänden wider, dazwischen klingt eine Art Schluchzen an. Mel Taş hält eine Hand vor ihren Mund und verschwindet am Ende des Flures um eine Ecke. Gerade, als du dich wieder deinem Kind zuwenden willst, schreit plötzlich Sams Stimme aus dem Spalt in der Stahltür hinter dir. “Dan, nein!”, schreit sie vertraut, “Nein, Dan, nein!” Dann ruckelt es und quietscht, als der Stahl über das Linoleum kratzt und es poltert, als er ins Schloss zurückfällt. Im Korridor wird es wieder ganz still, doch sind die beiden Türen nun Magnete geworden. Du spürst, wie sie an deinen Eingeweiden ziehen. Sie streiten um dich. Hinter der einen Tür ziehen die Augen des Kindes, hinter der anderen seine Schreie. Du blickst auf dein Handgelenk. Delila wühlt noch immer im Betongrab nach Netzempfang. Also triffst du ganz allein eine Entscheidung. “Bin gleich zurück”, sagst du den Augen und überquerst den Korridor, um durch das Rechteck in der Tür gegenüber das Schreien anzublicken.

Auf den ersten Blick sieht alles unverändert aus. Vor der Glasscheibe stehen die beiden Laborkräfte mit ihren Klemmbrettern in der Hand, dahinter hängt das fremde Kind festgeschnürt und schlaff in dem Zahnarztstuhl. Auf seinem Kopf jedoch haben die Saugnäpfe zu kriechen aufgehört. Sie scheinen fündig geworden zu sein, denn alle ihre Signalleuchten brennen. An der abgerundeten Wand übertragen alle Leinwände geschlossen dasselbe Bild. Du siehst dutzendfach einen Klassenraum für Elementarschüler. Leinwände baumeln zersplittert an ihrer Aufhängung. Um gleißende Einschusslöcher herum zeigen sie ein Mosaik des Alphabets und des Einmaleins in Kontrastfarben. Blut tränkt die bunte Tapete, von der Decke rieselt der Putz. Funken regnen aus Kabelfetzen herab. Im Hintergrund haben die Kinder ihre Handabdrücke mit Farbe auf einer Fensterscheibe hinterlassen. Zwei neue Abdrücke wurden kürzlich mit Blut ergänzt. Die Kamera fährt herab und zeigt den Mündungslauf eines schwarzen Maschinengewehrs, genau wie in Videospielen für Kinder, für die man einen Helm oder eine Brille benötigt. Als die Waffe sich vorwärts bewegt, wird das Bild hektischer und Details sind schwer zu erkennen. Du erahnst Holzsplitter, Scherben und rauchende Überreste von Tischen und umgeworfenen Stühlen. Über Lehnen und Kanten, unter Heizungen und um Tischbeine herum liegen die Verrenkungen zerfetzter Körper in bunten Kleidern. Auf dem Boden nahe des Fensters bewegt sich noch etwas. Die einzige erwachsene Person im Raum zerrt ihre zerschossenen Überreste am Boden entlang. Das Gesicht der Lehrkraft schwimmt im Blut, hinter ihr her schleift sie die Fetzen eines Schenkels, dessen Knochen über den Boden schabt. Am Ziel ihres Kriechens taucht hinter einer umgeworfenen Tischplatte eine kleine Hand auf. Sie streckt sich der Lehrkraft entgegen. Der Weg ist zu weit, darum wagt sich ein Arm dahinter hervor. Er steckt in einem grünen Ärmel. Als der Kopf und die Brust folgen, würgst du einen trockenen Brocken Erbrochenes auf die Hinterseite deiner Zunge. Du kannst auf der Brust das Wort “Freedom” lesen und die Entschlossenheit seiner Mutter in Sams Gesicht. Putz, Holzsplitter und Blut kleben dem Kind in den Haaren. Am Himmel vor dem Fenster senkt sich ein Helikopter. Da explodiert plötzlich die Luft zwischen der Kamera und dem Rest der Welt, als das Maschinengewehr zu rattern beginnt. Das Fenster zerplatzt zu Splitterregen, die Lehrkraft zerplatzt zu einer Wolke aus Rot und der Arm des Kindes zerplatzt zum Anfang eines bösen Traums.


Vor deinen Augen wird es Nacht. Du taumelst von dem Rechteck davon, übergibst einen Schwall Galle an Beton und Linoleum und taumelst fort von den Türen, taumelst den Flur entlang, taumelst durch Korridore, die alle gleich aussehen, taumelst an Leinwänden und Wischrobotern vorbei, an Laborkräften in Weiß und an Matcha-Automaten. Endlich findest du auf einer Leinwand einen Wegweiser, hörst in einem Treppenhaus die hohen Wände dein Japsen nachäffen, stolperst den Notausgangszeichen Stockwerk um Stockwerk hinterher, bevor du irgendwann endlich in der Tiefgarage zwischen teuren Fahrzeugen und Überwachungsleinwänden aus einer Tür herausfällst. In der Ferne beginnt dein Wagen zu piepen und grüßt dich mit seinen Scheinwerfern, doch du schleppst dich keuchend die Auffahrt hinauf, zwängst dich an einem Auto vorbei, dessen Fahrgast der Schranke gerade seinen Armreif präsentiert und dir einen Vogel. Endlich siehst du Tageslicht. Auf dem Vorplatz des Instituts verbessern die Filme auf den Leinwänden wieder das Image der Metropolpolizei. Du fällst dazwischen auf den Boden und deine Lungen saugen gierig den Sauerstoff aus der Stadtluft. An deinem Handgelenk meldet Delila sich mit einem Summen zurück. "Entschuldigung. Da ist etwas schiefgelaufen", sagt sie. “Bald ist es überstanden”, japst du. “Bald ist es überstanden”.


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“Nik und Tin”, sagte sie. “Fehlt nur noch ein o dazwischen, dann hat man ein Nervengift.”

Ganz so drastisch hättest du dich damals nicht ausgedrückt, wenn du zu zum Beispiel mit deiner Schwester über deine Beziehung sprachst. Für dich wart ihr wie Fische. Nicht wie die Nachbildungen, die man für dekorative Glaskästen im Büro kaufen kann, sondern wie echte, lebendige Tiere. Ihr wart euch zur Paarungszeit nahe gekommen und ein Weilchen gern beieinander geblieben. Doch dann wolltest du mit dem Strom davon schwimmen und sie dagegen an. Einzig ihr Bauch, der jeden Tag anschwoll und anschwoll wie eine Blase, hielt euch bei sich und einander. Alles, was außerhalb dieser Blase lag, war bald ein Ort ohne Atem.

“Sieht gut aus”, sagtest du. Tin stand auf Papierfolien, die den Teppich vor Spritzern schützten. Auf den Wänden trocknete Grün, hier und da glänzte die Farbe noch frisch. Sie nickte. “Mir gefällt’s auch. Für die Wände habe ich ein paar Bilder bestellt. Zahlen, Farben, Tiere. Wird zwar eine Weile dauern, bis das Kind rafft, was das alles sein soll, aber…” Sie zuckte mit den Schultern. Du musstest grinsen und kamst ein Stück auf sie zu. “Pass auf”, warnte sie. Zu deinen Füßen lagen ein Hammer und einige Nägel auf dem Teppich. “Wo soll die Leinwand hin?”, fragtest du. “Hier kommt keine rein”, antwortete sie, als würde sie dir sagen, dass ein Kreis rund ist und ein Quadrat viereckig. “Wenn es alt genug ist, kann das Kind selbst entscheiden, ob es bei diesem Quatsch mitmachen will oder nicht. Schlimm genug, dass es jetzt schon ständig überwacht wird. Jedes Mal, wenn das Kind sich rührt, schickt Delila mir eine Nachricht, mit welchem Fuß es als nächstes wohin treten könnte.” Dein Grinsen gefror. Lange wägtest du ab, ob der Haussegen noch mehr Schieflage verkraften konnte. “Ich möchte, dass hier eine Leinwand reinkommt”, sagtest du schließlich, und weil der Korken nun sowieso gezogen war, sprudelte noch mehr hinterher. “Ich höre mir deine Fantasien jetzt schon lange genug an. Wir sind hier nicht bei Robert Orwell.” Sie zog die Brauen hoch. “Der Mann heißt George. Aber sprich gerne weiter. Bin sehr gespannt, was da noch kommt.” Du riebst dir die Augen mit dem Daumen und Zeigefinger. “Der Teufel wohnt nicht in einer Leinwand, Tin. Ich werde unser Kind nicht aufziehen wie die Neandertaler, bloß weil du paranoid bist. Du kannst für dich entscheiden, was du tun willst und was nicht. Aber für unser Kind entscheidest du nicht alleine.” Tin blickte dir fest in die Augen, nahm ruhig ihren Reif vom Handgelenk und warf ihn vor sich auf den Boden. “Du bist ein richtiger Knecht”, sagte sie, hob den Hammer auf und begann, auf die kleine Leinwand am Boden einzuschlagen. Es dauerte länger, als du erwartet hättest, bis der Kunststoff zersplitterte und die Signalleuchte darin erlosch.


Als Tins Bauch so rund und so schwer wurde, dass der Baumarkt sie nur noch zwei Mal die Woche an der Verpackungsstation beschäftigen konnte, wurden die Zeiten für euch nicht ruhiger. Weil sie ohne Armreif nicht Bus fahren konnte, lief Tin Tag für Tag auf geschwollenen Füßen kilometerweit in die alternative Bücherei und brachte stinkendes, abgegriffenes Papier in speckigen Umschlägen und wirre Ideen mit nach Hause. “Wusstest du, dass es Informationen gibt, die Delila dir gar nicht zugänglich macht?”, sagte sie eines Abends, als sie unvermittelt im Türrahmen deines Arbeitszimmers stand. “Nik? Wir sollten wirklich über sowas sprechen. Wir müssen entscheiden, wie wir Sam vor dieser Manipulation schützen wollen.” Du nahmst den Blick nicht von der Leinwand. “Zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst”, sagtest du.


Delila bemerkte deine Unruhe lange, bevor dich jemand in Videoanrufen auf deine Augenringe und deinen Gewichtsverlust ansprach. “Wie geht es dir heute?”, fragte sie morgens. “Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit traurig bist”, erklärte sie. “Vielleicht hilft es dir, mit mir darüber zu sprechen”, sagte sie. Delila bot dir Meditationen und Atemübungen an. “Möchtest du mit mir über deine Partnerschaft reden?”, fragte sie. “Kannst du mit drei Adjektiven beschreiben, wie sich das Verhalten deiner Partnerin Tin<a> Dervishi verändert hat?”, wollte sie wissen. Sie zeigte dir nützliche Lektionen in Achtsamkeit. “Würdest du folgender Aussage zustimmen? Tin<a> Dervishis Launen sind eine Belastung für unser Familienleben.” Sie stellte ein hilfreiches Videotelefonat mit einem autorisierten Therapeuten der kassenärztlichen Vereinigung her, der viele interessierte Fragen über dich stellte und noch mehr über deine Partnerschaft.

Tin hatte ihre Füße gerade umständlich in die Schuhe gezwängt und wollte sich auf den Weg zur Bücherei machen, da standen zwei psychiatrische Fachkräfte mit Beistand der Metropolpolizei vor der Tür. “Tina Dervishi?”, fragte eine der Fachkräfte und wartete keine Antwort ab. Du strecktest den Kopf aus dem Arbeitszimmer. “Tina Dervishi, uns liegt der dringende Verdacht vor, dass sie dem Risiko eines selbstverschuldeten Unfalls ausgesetzt sind. Zum Schutz ihres Lebens und des Lebens ihres ungeborenen Kindes müssen wir Sie bitten, mitzukommen.”

Ein Beamter der Metropolpolizei verlas Paragraphen und Gesetzestexte. Tin drehte den Kopf zu dir um. “Das hast du gemacht, nicht wahr?”, sagte sie ruhig, als hätte sie nach langem Grübeln endlich ein grundlegendes Gesetz begriffen. Du schütteltest perplex den Kopf. “Nein”, sagtest du. “Nein, glaub mir, ich hab nicht -”

Die Tür fiel ins Schloss und du bliebst beinahe allein in der Wohnung zurück. “Wie geht es dir heute?”, fragte Delila in dein Ohr.


><


Im Institut haben sie dem Kind einen neuen blauen Pullover angezogen. Den grünen mit der Aufschrift “Freedom” behielten sie da. Das, woran er erinnert, auch. Nun greift das Kind nach deiner linken Hand und zieht sie zu sich. "Delila, Video 2 beenden", sagt es mit seiner hohen Kinderstimme in deinen Armreif. Auf der rechten Fahrgastseite wird die Windschutzscheibe klar. "Na, traust du dich?", fragt es und zeigt auf die meterhohen Leinwände hinter der Leitplanke. "Na klar”, sagst du und nimmst den Kopfhörer aus dem Ohr. “Schmidtkommen zum, äh…warte, gleich hab ich’s”. Das Kind schüttelt den Kopf. "Schmidtmachen beim Schmidternachtsmarathon und tolle Preise schmidtnehmen!”, plappert es los. “Am ersten Schmidtwoch im Juni. Gesponsert von Schmidt Sportschuhe in Kelkheim." Das Kind zeigt mit einem stolzen Grinsen, wieviele Milchzähne es noch hat. Du schaust ihm lange ins Gesicht. “Ich hab dich lieb, Sammy”, sagst du und hältst ihm deine Hand hin. “Ich hab dich mehr lieb, Papa”, sagt das Kind und legt seine Hand in deine. Du drückst sie fest. “Hey, Sammy, hast du keinen Hunger? Sollen wir so einen Algenburger bei Bunbun ausprobieren?” Das Kind kneift ungläubig die Augen zusammen. “Hä? Ich dachte, wir essen jetzt nur noch Bio, weil Delila findet, du bist zu dick?” Du hebst die Schultern. “Scheiß auf Delila. Essen wir nun einen Algenburger oder nicht?” Das Kind grinst wieder. “Du hast das Sch-Wort gesagt”.


Du teilst Delila das neue Fahrziel mit und schaust in den Himmel. Der Tag ist blau und voller Möglichkeiten. Auf dem rechten Fahrgastsitz quasselt Sam sich selbst Werbeslogans vor und wackelt mit den Beinen. Du schaust dem Kind zu und überlegst, ob du mit einer Antwort auf deine Frage leben willst. “Du, Sammy?”, überwindest du dich schließlich. Sam guckt dich groß an. “Wer ist eigentlich Dan?”, fragst du und schluckst. Das Kind denkt nicht lange nach. “Meinst du Dan Kreuzer?”, fragt es und dir vergeht sofort die Lust auf Essen. “Dan Kreuzer aus meiner Klasse? Das Kind kennst du, das war früher mal bei uns zu Hause. Aber wir spielen nicht mehr. Dan ist nämlich doof zu echten Tieren.” Kurz befürchtest du, dein Herz könnte stehen bleiben. Du erinnerst dich an den Besuch von Kindern, die lärmen und lästig sind, wenn du daheim an der Leinwand arbeitest. Du erinnerst dich nicht an ihre Gesichter und Namen. “Ist das, weißt du ob das, ist das vielleicht das Kind von jemandem bei der Metropolpolizei? Sammy, weißt du das?” Das Grinsen des Kindes schwindet. “Alles in Ordnung, Papa?”, fragt es und drückt deine Hand. “Ich glaube, sein Papa arbeitet da, weil -”. Sam hält inne. “Ich hab Dan versprochen, das keinem zu verraten.” Übelkeit drückt deinen Magen zusammen. “Sag’s mir, bitte!”, forderst du etwas zu laut. Sam zuckt zusammen. “Dan hat. Sein Papa sammelt. Die haben alte Waffen zu Hause. Weil der Papa bei der Polizei ist, deshalb darf der das. Damit gibt Dan manchmal an. In der Schule. In dem Büro von dem Papa sind die. Ich habe Dan gesagt, dass ich kein Wort glaube, weil Waffen nur in Spielen erlaubt sind. Stimmt doch, oder? Oder, Papa? Dann hat Dan mir die Waffen gezeigt. Ich fand das aber doof. Ich hab die auch nur einmal angefasst. Ich fand das doof.” Die Augen des Kindes füllen sich mit Tränen. “Steckt Dan in Schwierigkeiten, Papa?” Dein Herz ist doch nicht stehen geblieben, es donnert so nah und laut wie die Trommeln des Krieges, wenn der Sieg des Feindes bevorsteht. “Sammy? Hat Dan Kreuzer in deiner Schule die Kinder und die Lehrkraft erschossen?”, fragst du leise und blickst das Kind an. Tränen rollen über seine Wangen, seine Pupillen suchen und suchen und suchen etwas, sie suchen und suchen und finden nichts. “Ich weiß es nicht, Papa”, sagt das Kind. “Bitte sei nicht böse auf mich. Ich weiß es einfach nicht.”


Ein grüner Schriftzug tanzt über eine Leinwand am Straßenrand: “Pflanzenkraft voraus! Bunbun Plant-Based Burgers - Noch 300 Meter!” Das Auto nähert sich der Ausfahrt und während deine Gedanken noch durcheinanderwirbeln wie Schneeflocken, fährt es unbeirrt daran vorbei. Du hebst deine Brauen. “Delila, Reiseziel: Bunbun!”, sagst du in dein Handgelenk. “Abgelehnt”, blinkt darauf in Rot. Auf der linken Fahrbahn überholt euch ein roter Sportwagen. Ein Fahrgast hält sein Handgelenk ans Fenster und filmt euch. “Papa, was ist los?”, fragt das Kind, das immer noch weint. “Alles in Ordnung, Sammy, alles in Ordnung”, sagst du und zeigst dem Fahrgast des anderen Wagens einen Vogel. “Komm her”, sagst du dem Kind. Du nimmst es in den Arm und hältst es, wie du es gehalten hast, als es noch kleiner war. Du spürst seinen warmen Atem an deiner Brust und wie seine Tränen in deinen Hemdstoff einziehen. Du streichelst dem Kind den Hinterkopf, der geschoren ist und trotzdem weich. Ein Helikopter der Metropolpolizei fliegt sehr tief über das Dach des Autos hinweg, im Rückspiegel erkennst du einen zweiten Helikopter hinter euch. Mit der freien Hand steckst du deinen Kopfhörer zurück ins Ohr. Du atmest tief ein. “Delila, News auf 1” sagst du und auf der Leinwand vor deinen Augen zerfällt die Realität. In deiner Brust wächst ein Schrei heran.


“Besonders pikant: Sam Weber ist selbst noch ein Kind”, sagt die Nachrichtensprecherin auf der Leinwand. Du siehst die verwackelte Aufnahme der Elementarschule, die jemand mit dem Handgelenk gefilmt hat. “Wir sind froh, diesem Schrecken in wenigen Augenblicken ein Ende zu bereiten”, sagt Fin Kreuzer auf der Leinwand. Er sitzt in seinem Büro, an der Wand hinter ihm hängen Urkunden. Blasse Rechtecke auf der Tapete zeigen die Stellen, an denen vor Kurzem noch eine stolze Sammlung von antiquierten Schusswaffen hing. Die Leinwand zeigt ein neues Bild. Am blauen Himmel kreisen Helikopter über einem Wohnhaus neben den orangen Fahnen eines Baumarkts. “Die Auswertung der Erinnerungen ist eindeutig”, sagt eine Person mit Mundschutz, weißem Kittel und Handschuhen aus Naturgummi auf der Leinwand. Du siehst eine verwackelte Aufnahme von deinem Kind. Seine Haare fallen auf die Schultern und es berührt mit ehrfurchtiger Zurückhaltung den Griff eines Maschinengewehrs. “Wie genau Sam Weber in den Besitz der Waffe kam, wird in den kommenden Wochen Gegenstand von Untersuchungen sein”, sagt Fin Kreuzer auf der Leinwand. Du siehst Dan Kreuzer in einem Krankenbett. Sein Haar ist geschoren, er trägt einen grünen Pullover mit bunten Buchstaben. “Freedom” steht auf seiner Brust. Sein Oberarm ist mit einem Verband umwickelt. “Es grenzt an ein Wunder, dass Dan Kreuzer lebend aus dieser Hölle herausgekommen ist”, sagt die Nachrichtensprecherin auf der Leinwand. Dein Auto rollt auf Delilas Geheiß hin eine Autobahnabfahrt herab. Von der Brücke aus, die den Vorort überquert, siehst du Helikopter über deinem Haus kreisen. Du hörst nicht auf, Sams Kopf zu streicheln. “Es ist ein unfassbares Grauen, das diese Kinder erleben mussten”, sagt die Nachrichtensprecherin. Du siehst die Unterseite einer Tischplatte. Rote Fingerabdrücke sind darauf zu sehen, am Boden liegt Putz und klebt Blut. Die Kamera bewegt sich vorsichtig an der Tischkante vorbei. Weite Teile des Bildes sind nun verpixelt zu sehen, um die Zuschauenden nicht zu traumatisieren. Die meisten der verschwommenen Quadrate sind rot. Vor zersplitterten Leinwänden, die Funken sprühen und hilflos blinken, steht dein Kind mit einem Maschinengewehr. Sam trägt einen blauen Pullover. Am Hals erkennst du eine feine, leuchtende Naht. “Für den tapferen Versuch, das Leben der Lehrkraft zu retten, soll Dan Kreuzer nach seiner vollständigen Genesung die Verdienstmedaille der Metropolregion Frankfurt am Main erhalten”, sagt die Nachrichtensprecherin auf der Leinwand. Du siehst eine Hand hinter einer Tischplatte hervorkommen. Sie streckt sich nach einem Haufen Pixel am Boden aus. Dann erscheint ein grüner Ärmel, der Schriftzug “Freedom” auf der Brust, eine feine, leuchtende Naht am Hals und der Kopf von Dan Kreuzer.


Das Auto bleibt stehen. Jemand reißt die Tür auf und das Kind aus deinem Arm. Sam schreit, tritt und streckt die Hände nach dir aus. Du zwängst dich an der Presse vorbei und willst hinterherrennen, aber jemand schlägt dir mit hartem Gummi in den Nacken. Dir wird schwarz vor Augen und du gehst zu Boden, jemand tritt dich zurück in den Wagen. Den Knüppel der Metropolpolizei macht die Presse dafür Platz. Die Tür fällt hinter dir zu. Sie lässt sich nicht mehr öffnen. Medienteams steigen auf die Motorhaube und auf das Dach des Autos. Sie halten ihre Handgelenke an die Windschutzscheibe. Sie brüllen gedämpfte Fragen und Speichelfetzen fliegen aus ihren Mündern auf die Scheiben. Von Terrassen und Fenstern glotzen Handgelenke auf dich herab. Helikopter fliegen Handgelenke im Kreis. Auf der Leinwand siehst du, wie jemand Sams Arme auf den Rücken biegt. Das Kind wehrt sich. An seinem Oberarm färbt sich der blaue Pulloverstoff dunkel ein. Sie legen dem Kind Handschellen an und stecken es in einen Polizeiwagen. Mel Taş steht daneben, sie sieht aus wie jemand, der einmal an etwas geglaubt hat. Sie nimmt die Mütze vom Kopf, blickt sie an und wirft sie fort. Deine Lungen vergessen, was sie seit Milliarden von Jahren von ganz allein getan haben. “Delila, Atmen”, keuchst du. “Einatmen”, sagt dir die Säuselstimme. “Halten”, sagt sie. Und “Ausatmen”.

1 Comment


Jonasmieth
Jonasmieth
Aug 01, 2021

Pierre,

habe jeded Wort aufgesogen. 10/10 would read again. ❤

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