Manfred Bedinger war ein harter Mann. Das sagten die Nachbarn, wann immer sie ihn sahen. Ein harter Mann mit eiserner Miene und einer tiefen Falte auf der Stirn, mit kurzgeschorenen Haaren und einer Lederjacke. Viele Geschichten rankten sich um den Gerichtsvollzieher: Er zuckte mit keiner Wimper, wenn er dir alles nahm, was dir wichtig war und dich mit nichts zurückließ. Wer Manfred Bedinger auf der Straße sah, zuckte zusammen, sah sich unruhig um und wandte dann den Blick ab, damit er nicht bemerkte, dass man da war und damit seine beiden Bulldoggen nicht die Angst wittern konnten. In seiner Umgebung wollte jeder unsichtbar sein. Zugleich zog man das Smartphone hervor, checkte den eigenen Kontostand und atmete erleichtert auf. Manfred Bedingers Gegenwart brachte Schrecken und zugleich eine befriedigende Gewissheit, dass man selbst niemals zu den Menschen gehören würde, an deren Türe er klopfen würde. Das passierte nur anderen Menschen.
Manny B. war kein harter Mann. Manny war ein trauriger Mann. Es hatte damit angefangen, dass sein Bruder verschwunden war, kaum 18 Jahre alt, und seine Eltern in ein tiefes Loch gefallen waren. Er hatte den Haushalt neben der Schule schmeißen müssen und hatte seine Nachmittage mit verschiedenen Gelegenheitsjobs verbracht, sich oft genug Ärger eingehandelt, mit Chefs angelegt, war rausgeworfen worden. Dann das gleiche im nächsten Job und im nächsten. Immer mit dem Gefühl, er würde auf dünnem Eis stehen, das jeden Moment unter ihm zerbrechen konnte, und ohne die Möglichkeit, ans Ufer zu gelangen, an dem er sicher war. Vielleicht war Sicherheit nur eine Illusion für jemanden wie ihn. Vielleicht verdiente er weder ein einfaches noch ein glückliches Leben. Die Menschen, denen er in seinem Alltag begegnete, bekamen auch weder das eine noch das andere, also warum sollte es ihm besser ergehen? Er war irgendwie reingerutscht in diesen Beruf, hatte sich darin gefunden, bevor ihm bewusst gewesen war, was die Konsequenzen für ihn waren. Oder vielleicht hatte er es gewusst, aber es war ihm egal gewesen. Moralische Implikationen zu bedenken war nicht immer so einfach, wenn man darüber nachdenken musste, Essen auf den Tisch zu bringen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für den alternden Vater. Und für seine beiden Hunde. Als Brutus gestorben war, im letzten Jahr, hatte er tagelang geweint. Eine Frau hatte er nie an sich binden können, auch wenn es das eine Mal fast geklappt hätte, mit Sabine. Bis zur Verlobung hatten sie es geschafft und er hatte schon das große Glück mit ihr gesehen. "Du bist ein trauriger Mann, Manny.", hatte sie an dem Tag gesagt, an dem sie ihm den Ring zurückgab. "Und ich wünsche mir eine fröhliche Zukunft."
Manchmal träumte Manny von einem anderen Leben. Manchmal stellte er sich vor, die Zelte abzubrechen in dieser Stadt, dieser verdammten Stadt, und neu anzufangen. In einem Buchladen, vielleicht. Irgendwo, wo es still war und friedlich. Eine kleine Wohnung, vielleicht mit einem Balkon. Oder einem Garten für die Hunde. Vielleicht würde er sogar eine Frau kennenlernen, die mehr in ihm sah als Traurigkeit. Er sehnte sich nach echten Gesprächen und danach, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Einfach durchzuatmen und vielleicht sogar zu lächeln. Er lächelte immer seltener heutzutage, manchmal fragte er sich, ob man es verlernen konnte. Ob die Muskeln in seinem Gesicht irgendwann aufgeben würden.
Es war ein Montag, als Mannys Leben sich veränderte. Er verließ sein Haus um halb sieben, wie er es jeden Tag tat, in der Hand die Leinen seiner beiden Hunde. Es war windiger als sonst und es fühlte sich beinahe an wie in einer Filmszene, als ein Flugblatt ihn im Gesicht traf und er es mit der freien Hand auffing. "Ihre Stadt könnte die nächste sein", stand dort in großen Buchstaben und ein Lächeln umspielte seine Lippen. "Haben Sie schon einmal von Dauphin, Kanada gehört?" Vielleicht, dachte Manny, hatte er nun die Chance, ein bisschen glücklicher zu werden.
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