VON LEO LEMKE //
Chadui. Das war das Wort, das Thea durch den Kopf ging, als sie in Richtung Meeresboden sank. Thalassisch für ich sinke. Sie dachte es, sie sagte es. Chadui. Also tat sie es auch: Sie sank, fiel in Zeitlupe die Klippe hinab, von der sie gesprungen war, sah die schartige Felswand des Unterwassermassivs an sich vorbeiziehen, spürte den zunehmenden Druck des Ozeans, wiederholte das Mantra, wieder und wieder, und ergänzte es, als der Sauerstoff in ihren Lungen knapp wurde, um ein weiteres Wort: Charuum. Thalassisch für ich atme. Obwohl es nichts gab, was sie hätte atmen können, tat sie es nun: sie sank und sie atmete, chadui, charuum, tiefer und tiefer hinab, in ein anderes Meer als jenes, das sie umgab, ein anderes als der Pazifische Ozean, dessen Farben langsam verblassten, dessen purpurne Anemonen ihr Rot, dessen Steinkorallen ihr Gelb, dessen Tangknäuel ihr Grün verloren, bis erst Schattierungen von Blau und schließlich absolute Dunkelheit alles verschluckten. Chara. Ich sehe. Dachte sie und sagte sie und nun sah sie ohne Licht und atmete ohne Luft und versank in etwas, das hinter den Wassern, darin, darunter lag, versank nicht mit, sondern zwischen den Strömungen in eine Welt, die von den Gezeiten verbreitet wurde wie Gerüchte im Wind, im Ausspruch Thauriel Chadiirs, des ersten Mundes, im erzählten Meer, im Binnenmär.
Chadui. Charuum. Chara.
Auf einer Kelpwaldlichtung, schemenhaft beleuchtet von verirrten Sonnenstrahlen, beobachtet Dara, Oberflächenkorrespondentin von Thauriel, die Ankunft einer Menschenfrau. Prof. Dr. Thea Lindholm kommt durch das Riesenalgenwedeldickicht hinab geschwebt. Sie könnte dabei einen engelsgleichen Eindruck machen, ist dafür jedoch zu verspannt, der Blazer, der sie geisterhaft umwabert, zu lädiert, ihre Landung: zu plump. Halb sitzend, halb liegend beendet sie ihren ewigen Sturz in einem Korallengebüsch. Chadui. Charuum. Chara, murmelt sie ein letztes Mal vor sich hin, überzeugt sich davon, dass sie nicht davontreibt, erstickt oder erblindet, und rappelt sich dann ächzend auf.
Chalach, duilach. Ich bin hier. Du bist hier.
Die fremde Grußformel geht Thea leicht von den Lippen; eine Beteuerung der Wirklichkeit, der gemeinsamen Anwesenheit. Die Thalassin tritt einen Schritt hervor, nickt ihr zu und erwidert:
Duilach.
Sie sind sich zuvor schon einmal begegnet, in einem staubigen Vorlesungssaal in Bochum. Ontologia Thalassica hatte auf der Projektion an der Leinwand gestanden, von der sich ihre Silhouetten abhoben. Ontologia Thalassica: der etwas reißerisch geratene Titel von Theas Vorlesung über das Wechselspiel von Wirklichkeit und Sprache im Binnenmär. Ein paar Studenten in der ersten Reihe packten extra langsam ein, um mitzukriegen, was die Thalassin wohl von ihrer Professorin wollte. Dara sprach hervorragendes Deutsch, doch ihre stakkatohafte Aneinanderreihung rein faktualer kurzer Sätze verriet ihre Herkunft. Stärker als jeder Akzent. Sie erzählte mit rauer Stimme von einem Mädchen in Thauriel, das Dinge sagte, die weder wahr waren noch wahr wurden, sich also der thalassischen Grammatik und Ontologie widersetzten. Und da Thalassen ihrer eigenen Sprache im selben Maße unterworfen waren, wie die Sprache ihnen, brauchte es jemand Externen, um das Ausmaß dieser Anomalie zu ermitteln. Thea hatte schon zugesagt, noch bevor sie gebeten wurde.
Im Binnenmär wirkt Dara anders. Wie sie dort halbnackt im Schatten der Algenwedel steht und ein Perlmuttschimmer über die Plättchen auf ihren Armen läuft, die mit Schuppen so viel zu tun haben wie menschliche Armhaare mit Fell, strahlt sie eine beeindruckend sinnliche Tatsächlichkeit aus, die ihr im Licht der universitären Halogenröhren gefehlt hat. Sie führt Thea durch den Wald, nicht an der Hand, auch wenn Thea merkt, dass sie das gut fände, und auch nicht schwimmend, sondern gehend, hüpfend fast, wie ein Astronaut bei verringerter Schwerkraft. So wie die Menschen eines Tages aus den Bäumen hinabgeklettert waren, hatten sich die Thalassen irgendwann dazu entschieden, von der großen Leere der oberen Wasserschichten auf den Meeresboden der Tatsachen herabzusinken und dort zu bleiben. Tardui. Thalassisch für man sinkt.
Gleich vor dem Algenwald wartet ein konservierter Walkadaver darauf, sie mit nach Thauriel zu nehmen. Er verwest nicht, weil die Walfahrtsgesellschaft sagt, dass er das nicht tut. Das Wort – gochat – verbietet es ihm. Zwischen Rippen sitzend und durch ins Walfleisch gesägte Fenster auf vorbeiziehende Unterwasserlandschaften blickend, reisen Thea und Dara mit dem Kadaver in weniger als zwei Stunden bis an ihr Ziel.
Thauriel.
Einst die hydropolitisch bedeutendste Stadt des Binnenmärs, ist sie heute nur noch von kulturellem Interesse. Pilger aus allen Ecken des Märs kommen hierher, um den Ursprung ihres Seins zu besuchen: den Weißen Raucher Thauriel Chadiir. Vor Abermillionen Jahren stieß diese geothermale Quelle neben einem gigantischen Rauchkegel voller Sulfate, Carbonate und Siliziumdioxide auch jene Erzählung aus, die das Binnenmär gebären würde. Heute ist sie versiegt, der erste Mund verstummt. Ihn zu sehen kostet täglich hunderte Touristen je drei Kaurischnecken Eintritt.
Das oberflächige Amt hat Thea in einer aus Kalkstein geformten Herberge unweit von Thauriel Chadiir untergebracht. Nach dem Abendessen – über geothermalen Quellen geräucherte Seepferdchen und saurer Algensalat – spaziert sie mit Dara durch einen öffentlichen Korallengarten. Anglerfischlaternen werfen Lichtinseln auf bemuschelte Pfade. Farbenprächtige Gorgonien säumen pittoreske Alleen. Ein älterer thalassischer Gärtner stutzt in liebevoller Kleinstarbeit die wild wuchernden Polypen herbstlicher Hydrozoen mit einer geräuschvoll zuschnappenden Krebsschere. Thea lässt sich von Dara erst allerlei abenteuerliche Geschichten aus ihren Einsätzen erzählen und schließlich in die Kunst des thalassischen Witzes einweihen. Da es im Thalassischen weder Fiktion noch Spott gibt, bestehen die Witze hier nur aus Aspekten der Wirklichkeit, die aus einer bestimmten Perspektive heraus betrachtet eine komische Wirkung haben. Zumindest für thalassische Ohren. Walbarten aus der Sicht eines Planktons. Ein Mensch aus der Sicht eines Wals. Die Strömung aus der Sicht eines Urbakteriums. Thea versucht es mit dem Gärtner aus der Sicht seiner Schere, kann Dara damit jedoch nicht einmal ein Lächeln entlocken.
Am nächsten Tag sitzt Thea in einer Zelle, die nichts anderes ist als das: eine Zelle, egal wie bunt die Muschelscherbenmosaike an den Wänden auch sein mögen, egal wie viel Spielzeug auf dem Boden verteilt ist, der Eingang wird von zwei Männern mit Schwertern aus Narwalhorn bewacht, also ist es eine Zelle, kein Kinderzimmer. Ein Mädchen hockt Thea gegenüber, spielt mit einem Schwammbären und spricht von Dingen, die nicht sind. Genau wie Dara es in Bochum angekündigt hat. Ungeklärt sind die Umstände seiner Herkunft, doch aus linguistischer Sicht gibt das Mädchen Thea keine allzu schwierigen Rätsel auf. Schon nach wenigen Sätzen identifiziert sie die grammatische Besonderheit und die Satzpartikel, die das Unmögliche ermöglichen. Guiree am Ende eines Satzes verführt diesen in den Irrealis; macht ihn zur bloßen Möglichkeit, zur Hypothese und setzt ihn bewusst in Opposition zur Realität. Theas innere Ontologin horcht kurz auf, ist dann jedoch schnell genauso ernüchtert wie Theas innere Linguistin. Zwar klingt es gefährlich, wenn jemand mit einem einzigen Satz eine mögliche Realität daran hindern kann, sich zu verwirklichen; doch löscht jedes Lebewesen mit jeder getroffenen Entscheidung ständig eine unendliche Menge an Alternativen aus, sodass die Auslöschung einer einzigen Alternative für das Binnenmär nun wirklich keine Gefahr darstellt. Wenn überhaupt, denkt sich Thea, besteht höchstens die Gefahr, dass es hier unten dadurch in Zukunft bessere Witze geben könnte.
Obwohl Theas Untersuchung somit schon am ersten Tag ein wenig pointiertes und antiklimaktisches Ende findet, behält sie den Abschlussbericht zunächst ein. Weniger aus Interesse an der Wissenschaft als aus Interesse an Dara. Tagsüber spielt sie mit dem gefangenen Mädchen und verprobt an ihm eigens kreierte thalassische Witze, von denen sie die besten abends im Korallengarten Dara erzählt – ohne Erfolg. Während das Mädchen sich häufig goldig lachend kugelt, bleibt Daras Mine wie in Stein gemeißelt. Thea ist sich nicht sicher, ob die Kleine ein zu leichtes Publikum darstellt oder ob Dara einfach keinen Humor hat. Nach einer Woche gibt sie es schließlich auf; reicht beim Untersuchungsausschuss ihre wenig spektakulären Befunde ein und spaziert ein letztes Mal mit Dara zwischen den Korallen hindurch. Sie haben sich nicht mehr viel zu sagen, darum schweigen sie vornehmlich. Als es Zeit wird, zu gehen, greift Dara Thea an Kopf und Arm und küsst sie, weder leidenschaftlich noch mitleidig, weder sanft noch stürmisch; es ist der traditionelle thalassische Kuss des Dankes und des Abschieds und obwohl Thea sich dessen bewusst ist, schlägt ihr das Herz bis zum Hals, fühlt sie beschämt einen Anfall kindlicher Verliebtheit heiß in ihre Wangen steigen, den sie gegenüber dieser nahezu Fremden komisch, fast schon albern findet, und sie denkt sich: damit könnte sie Dara zum Lachen bringen, Dara aus Theas schockverliebter Sicht, in diesem Augenblick, in einen Witz verpackt, Thea ran Dara thiel, doch sie ist zu verlegen, ihn auszusprechen, lässt den Moment verfliegen und belässt es bei dem Kuss als Abschiedswort.
An Theas letztem Morgen im Binnenmär ist Dara bereits fort. Ein Beamter des oberflächigen Amtes erklärt, dass man sie spontan nach oben, in die Toskana geschickt habe, um dort einer Untersuchung beizuwohnen. In einem Thermalbad in Saturnia, so die dort ansässigen Menschen, habe man ein Flüstern gehört. Thea verbringt die letzten Stunden vor ihrem Aufstieg also allein – mit Sightseeing. Drei Kaurischnecken bezahlt sie an einem Schalter, reiht sich geduldig in eine Schlange aus Pilgern ein und starrt bald über ein albernes Geländer hinweg auf Thauriel Chadiir hinunter. Der Ursprung des Binnenmärs liegt dort, in all seiner drastischen Banalität. Versiegt und verstummt ist er heute nicht mehr als ein riesiger verkalkter Schlot, eine triste Geröllgrube, vollständig entzaubert. Thea flüstert ihm einen Witz entgegen, doch auch der erste Mund schenkt ihr kein Lächeln.
Toll, toll, toll, was für Welten du erfindest!