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Das stille Echo der Entstehung des Universums am anderen Ende der Leitung

VON EMIL FADEL //



"Don't forget us. We are, again, alone.

Probably the normal condition of humankind, to be alone."

- Jacques Arnould in The Visit: An Alien Encounter

(Regie: Michael Madsen, FIN 2015)



Immer wenn wir abends in deinem Garten auf den Liegestühlen liegen und in den Sternenhimmel schauen, willst du meine Hand halten und ich will den Mut finden, dir zu sagen, dass es zwischen uns aus ist. Du willst jeden Abend mit mir im Garten liegen, auf den zwei Liegestühlen, die wohl schon deiner Oma gehört haben, so wie sich ihre Metallfederung in die Rückseite meines Brustkorbs bohrt. Und du willst immer in den Sternenhimmel schauen und dabei meine Hand halten, bis du einschläfst, oder der Morgen kommt. Beides dauert in der Regel ziemlich lange und dementsprechend müde bin ich jetzt immer, wenn ich an der Tankstellenkasse stehe (sitzen darf man nicht) oder nach Schichtende zurück nach Hause fahre. Vor kurzem bin ich sogar einen Moment lang am Steuer weggenickt, hab aber noch den Gedanken erhaschen können, dass ich wohl gerade einschlafe, und bin dann den Rest der Fahrt extra vorsichtig gefahren, mir permanent auf die Innenseite meiner Backen beißend, damit der Schmerz mich bei Bewusstsein hält. Und alles nur wegen dir. Alles das nur, weil du besessen bist von Fermi.


Am Anfang fand ich das irgendwie süß, wie sehr dich der Gedanke an Aliens beschäftigt hat, und daran ob und wann und wie die sich bei uns melden werden und deine Unruhe darüber, dass und warum die das bisher noch nicht getan haben. Damals hatte ich noch nicht von Enrico Fermi gehört, oder von dem Paradoxon, das nach ihm benannt wurde. Du erzähltest mir davon während wir ein Eis im Stadtpark aßen, bei unserem zweiten Date – oder war es schon das dritte? – und da hätte eigentlich schon eine Alarmglocke bei mir klingeln müssen, denn wem fällt beim dritten Date kein anderes Gesprächsthema ein als ein 70 Jahre toter Physiker? Gut, Physikstudierenden vielleicht. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an die Naturwissenschaft der Physik im Allgemeinen sowie an die beteiligten Personen im Besonderen gedacht, seitdem ich das Fach in der Oberstufe abgewählt hatte, weil mein Physiklehrer ein Arsch war.


Dementsprechend wenig konnte ich mit dem Namen anfangen, aber vielleicht wäre das so oder so der Fall gewesen, denn Fermi ist eher eine Randfigur der modernen Forschung – wie du mir erklärtest, während ich versuchte, möglichst unauffällig einen Tropfen Stracciatella-Eis von meiner Hose zu kratzen – , er hat zwar den Nobelpreis für irgendeine bahnbrechende Entdeckung auf dem Gebiet der Radioaktivität bekommen, aber er rückt in der Gegenwart von Figuren wie Einstein und Oppenheimer – deren Namen ich wiederum kannte, weil ich eine Woche zuvor eine Netflix-Doku über den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gesehen hatte – doch immer wieder in den Hintergrund. Zumindest als Physiker. Aber es gibt noch etwas anderes, weswegen man sich an ihn erinnert, und an der Stelle begannen deine Augen zu leuchten, was ich sehr schön fand und wovon ich damals dachte, es wäre vielleicht wegen mir, aber da lag ich wohl falsch. Fermi hat nämlich auf einem ganz anderen Gebiet einen sehr entscheidenden Beitrag geleistet, der die Menschheit (und damit meine ich in erster Linie: dich) bis heute beschäftigt.


Irgendwann 1950, als er in Los Alamos am Manhattan-Projekt mitarbeitete (das ich auch aus der Doku kannte), saß Enrico Fermi mit ein paar anderen Forschern beim Mittagessen und sie unterhielten sich über ein paar Sachen, die nichts mit ihrer Arbeit oder mit dem Abwurf zweier Atombomben auf die Köpfe irgendwelcher Japaner zu tun hatten – vielleicht um sich davon abzulenken, woran genau sie da eigentlich mitarbeiteten. Und so kamen sie auf die Existenz außerirdischen Lebens zu sprechen und da platze es dann irgendwann aus Fermi heraus: „Aber wo sind denn dann alle?“ Zum damaligen Zeitpunkt fanden das wahrscheinlich alle ziemlich lustig, als Naturwissenschaftler so was Dummes zu fragen, aber ein paar der Leute im Raum hatten wahrscheinlich schon damals ein vage Ahnung, dass es mit der Frage mehr auf sich hatte als nur das pure Unverständnis, warum denn keine kleinen grünen Männchen vor unserer Haustür standen. Trotzdem dauerte es Jahre – Fermi war schon lange an Magenkrebs gestorben –, bis sich jemand ernsthaft mit dem Thema auseinandersetze und die Widersprüchlichkeit ausformulierte, die fortan als Fermi-Paradoxon ihren Platz in der Wissenschaft einnehmen würde.


Die Grundidee, wie du mir geschildert hast – wir saßen immer noch auf der Parkbank und ich sah gerade ein, dass ich den Fleck auf meiner Hose durch das Wegwischen nur schlimmer gemacht hatte – ist die, dass die Erde im Grunde eigentlich gar kein so besonderer Planet ist. Ich fand das beinahe zynisch, auf alle Fälle nihilistisch und anscheinend war mir das anzusehen, denn du beeiltest dich zu sagen, dass die Erde an sich schon ziemlich besonders sei, wegen dem Leben und so weiter, aber gemessen an der schier unendlichen Menge an Planeten im Universum existiert doch eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich dieselben Vorgänge, die hier zur Entstehung von Leben geführt haben, auch anderswo wiederholt haben. Und wenn dieses Leben sich auch nur in entferntester Weise entwickelt hat wie wir, bedeutet das, dass es im Universum noch eine ganze Menge anderer Zivilisationen gibt, die die Sterne erforschen, Raumschiffe bauen und auf anderen Himmelskörpern landen – so wie wir eben.


Und wenn man sich die Menschheit so anschaut, ist es auch keine so abwegige Vorstellung, dass diese besagten anderen Zivilisationen schon deutlich weiter sind, weil sie nicht dauernd Krieg untereinander führen oder TikTok-Tänze auswendig lernen, und somit könnten sie auch schon bessere Raumschiffe haben und Antriebe und was man sonst noch braucht um das eigene Sonnensystem zu verlassen. Und schlussendlich: Wenn es diese fortgeschritteneren, durchs Universum fliegenden Aliens gibt, dann besteht zumindest der Anflug einer Chance, dass wir in irgendeiner Art etwas von ihnen mitbekommen haben müssten… durch direkten Kontakt, Radiosignale, oder indem wir den Müll finden, den sie zurückgelassen haben, und so weiter… aber genau hier liegt das Problem: Das ist bisher nicht passiert.


Und genau das ist es, was Fermis Problem ausmacht, das er damals beim Mittagessen so abrupt in den Raum stellte: Wenn es doch anhand purer Wahrscheinlichkeit außerirdisches Leben gibt, wieso sind wir bisher nicht besucht worden? Es ist ja nicht so, dass sich die Menschheit verstecken würde, im Gegenteil: Es werden immer wieder unbemannte Sonden in alle möglichen Richtungen geschickt, von denen die eine oder andere bestimmt mittlerweile vom Kurs abgekommen und auf eine wilde Entdeckungstour aufgebrochen ist. Und wir haben – beabsichtig wie unbeabsichtigt – eine Unmenge von Radiobotschaften und anderen Signalen ins All geschickt, manche sogar mit direkten Wegbeschreibungen, wie man zur Erde kommt. Doch es kam kein Besuch und auch keine Antwort, die gewaltigen, auf den Weltraum gerichteten Parabolantennen empfangen nichts außer dem weißen Rauschen, das ironischerweise eigentlich kein Mangel an Signalen ist, sondern ein Zuviel davon, die von den Sternen endlos zurückgeworfenen Echos des Universums, aus denen man aber dennoch kaum etwas heraushören kann.


„Hast du mal Contact gesehen? Mit Jodie Foster?“ frage ich dich jetzt, mich immer noch auf dem unbequemen Liegestuhl windend. „Hm.“ sagst du nur ohne deinen Blick vom Sternenhimmel abzuwenden und ich kann nicht wirklich erkennen, ob das ein Ja oder ein Nein sein soll. „Das ist ziemlich lustig, da empfangen die irgendwann wirklich ein Signal von Außerirdischen, halt nur so Primzahlen, und als sie es entschlüsseln, ist es eine Rede von –“ „Achso. Contact. Jaja, natürlich kenn‘ ich den“, schneidest du meine Erzählung entzwei, noch ehe sie richtig an Fahrt gewinnen konnte. Wahrscheinlich hast du mir nicht mal richtig zugehört. Das ist es was ich daran hasse, mit dir hier draußen zu liegen: Zu wissen, dass du meine Gesellschaft eigentlich gar nicht brauchst, dass dich nicht interessiert, was ich zu sagen habe, was ich denke, oder wie ich mich fühle. Dass du lediglich immer darauf bestehst, dass wir zusammen hier liegen, weil es eben doch besser ist, als alleine zu sein.


Ich kann nicht mehr genau sagen, wann dein Interesse an Fermis Paradoxon aufgehört und deine Besessenheit damit angefangen hat… es war auf jeden Fall irgendwann im letzten Jahr gewesen, als du alle möglichen Varianten auf große Bögen Druckerpapier geschrieben und bei dir an die Wand gehängt hast. Dass du sie nicht auch noch mit rotem Bindfaden verknüpft hast, wie so ein Verschwörungs-Typ in einem Comedy-Sketch, ist auch das einzig Gute daran, aber ich muss jetzt trotzdem immer auf Begriffe wie „Rare-Earth-Hypothese“, „Die Erde als Zoo/Planetarium?“ oder „Dark-Forest-Theorie“ starren, wenn wir miteinander schlafen.


Du hast mir all diese verschiedenen Ideen natürlich auch alle irgendwann einmal erläutert, aber da habe ich schon nicht mehr zugehört, vielleicht weil ich nicht mehr folgen konnte, vielleicht aber auch aus einer Art trotzigem Widerstand, weil ich damals schon fühlen konnte, dass du mir entgleitest. Im Grunde ist es auch ziemlich egal, was die einzelnen Hypothesen im Detail besagen, weil die deprimierende Ausgangssituation immer dieselbe bleibt: Wir sind allein und keiner möchte mit uns reden. Ob das nun so ist, weil außerirdisches Leben einfach zu außerirdisch ist, weil alle anderen Zivilisationen sich immer selbst ausgelöscht haben, bevor sie nennenswerte Erfolge bei der Raumfahrt erzielen konnten, oder weil die Menschheit als sowas wie ein intergalaktisch Aussätziger gilt, der von jeder halbwegs klugen Lebensform gemieden wird – wer könnte es ihnen auch verdenken? – ist ja nun wirklich nicht so wichtig. Und sich darüber Gedanken zu machen, welcher der Faktoren jetzt am zutreffendsten sein könnte, wirkt auf mich auch nur wie das Lamentieren des unbeliebten Kindes darüber, warum niemand mit ihm spielen will.


Du scheinst zumindest das ähnlich gesehen zu haben, denn als die Monate verstrichen, kamen immer weniger Ergänzungen zum Druckerpapier-Schaubild dazu, am Ende versiegten sie ganz und eines Abends stelltest du die beiden Liegestühle auf den Rasen, genau da wo die Terrasse endet, und sagtest, dass du gerne vor dem Schlafengehen noch Sterne gucken wollen würdest. Und ich fand das ganz gut, weil es etwas Neues war, weil es dich von Fermi wegzubringen schien und mich von den Druckerpapier-Bögen, die immer auf mich herunterstarrten, wenn ich versuchte, neben dir einzuschlafen.


Es war Sommer und die Nächte waren lau und wir waren beide auch noch ziemlich verliebt, glaube ich – auf jeden Fall sah es nicht so aus, als würde uns irgendetwas im Weg stehen können dabei. Mein Liegestuhl war zwar schon von Tag Eins an unbequem, aber zunächst störte mich das nicht, ich dachte eben, dass das eine Sache von ein paar Abenden sein würde, am Ende des Tages für einige Stunden unter den Sternen liegen und zur Ruhe kommen, bevor man dann wieder zurück ins Haus geht, sich ins Bett kuschelt und einschläft, die kühle Frische der Sommernacht noch auf der Haut. Doch mit jedem Abend, den wir draußen verbrachten, wolltest du länger bleiben, hieltest meine Hand noch fester und starrtest noch angestrengter in den Sternenhimmel, so als würde es dir gar nicht darum gehen, zur Ruhe zu kommen, im Gegenteil. Vielmehr schienst du auf irgendetwas zu warten, darauf dass etwas passierte – etwas, das ich nicht beim Namen nennen konnte, weil ich mir sonst albern vorgekommen wäre. Es dauerte Wochen, bis ich mir ein Herz fasste und dich fragte. Ob du auf Aliens wartest. So ausformuliert schien es dich auch ein bisschen zu erschrecken – wahrscheinlich hattest du dich mit dem Gedanken selbst noch nicht so richtig angefreundet – zumindest dauert es lange, bis du antwortest, natürlich ohne den Blick von den Sternen abzuwenden und was du sagst, klingt auch weniger wie ein Eingeständnis und vielmehr wie eine Anklage: „Irgendwer muss doch da draußen sein.“


Wahrscheinlich hätte ich dich schon an diesem Abend konfrontieren müssen und dir sagen, dass ich mir Sorgen um dich machte. Aber ich tat es nicht. Warum kann ich nicht mehr genau sagen, aber wahrscheinlich war es eine Mischung aus Angst, dass du mich für einen Kontrollfreak halten würdest, und Apathie, weil es sich anfühlte, als wärst du mir schon längst entglitten. Im Grunde, denke ich jetzt, während ich es immer noch nicht fertiggebracht habe, etwas zu sagen, im Grunde warst du schon auf diesem Kurs, mir zu entgleiten, als wir uns kennenlernten und es ist von Anfang an zu spät gewesen. Oder, um es in deiner Terminologie auszudrücken: Wahrscheinlich waren wir schon immer auf unterschiedlichen Umlaufbahnen. Vor Kurzem habe ich irgendwo gelesen, dass man bei Himmelskörpern, die in ein anderes Gravitationsfeld gezogen werden, von einer „depressiven Umlaufbahn“ spricht… und ich finde, dass das ein sehr passender Ausdruck ist.


Man wird von seinem eigentlichen Weg abgelenkt und trudelt seiner sicheren Zerstörung entgegen und nichts kann einen retten, höchstens ein anderes, noch stärkeres Gravitationsfeld – das dann aber auch nur dafür sorgt, dass man auf ein neues Ende zu treibt. Dein Ende waren schon immer diese Abende hier gewesen, verzweifelt den Nachthimmel absuchend, ob da nicht doch jemand ist, der uns Menschen im Allgemeinen und dich im Besonderem aus der Einsamkeit erlösen kann und mit der vagen Hoffnung einschlafend, dass es vielleicht bald so kommen wird, nur noch einmal aufwachen und sich durch den Tag kämpfen und dann ist es so weit. Und währenddessen bleibt die Erde eine verschwindend kleine Murmel, die durch ewige Dunkelheit zirkelt und überdies langsam stirbt, weil wir als Spezies nicht mal Umweltschutz auf die Reihe bekommen und irgendwo weißt du das auch, da bin ich mir sicher. „Ich gehe jetzt heim“, sage ich auf einmal und überrasche mich damit selbst, denn ich hatte eigentlich nicht vor, etwas zu sagen, nicht heute Abend, aber jetzt ist anscheinend der Moment gekommen, über den ich schon so oft nachgedacht habe und er fühlt sich gar nicht so besonders an, mir ist nur ein wenig kalt.


Du sagst sehr lange nichts. So lange, bis ich mir nicht mehr sicher bin, ob du überhaupt noch wach bist. Das wäre auch typisch, denke ich, dass ich mich erst dann traue, was zu sagen, wenn du es schon nicht mehr hören kannst. Aber dann drehe ich mich zu dir um und sehe, dass du die Augen offen hast und als würdest du jetzt auch realisieren, dass du mir irgendwas antworten musst, sagst du „aha.“ Nur das. „Aha.“ Und dann, ganz leise: „Kommst du morgen Abend wieder?“ Und das ist genau die Frage, vor der ich mich so fürchte, denn jetzt muss ich meine ganze Kraft aufbringen, um nicht wieder zurück auf meine eigene depressive Umlaufbahn zu geraten und obwohl ich nicht weiß, wie genau ich es schaffe, sage ich dann schließlich doch: „Nein.“ Und es fühlt sich zwar nicht so schlimm an, wie ich es mir immer ausgemalt habe, aber dennoch versetzt es mir einen ziemlichen Stich, als ich sehe, wie sich das Wasser in deinen Augenwinkeln zu trotzigen Tränen sammelt, die in Richtung Liegestuhlpolster rinnen, ohne dass du es willst und dann sagst du, noch leiser als zuvor: „Okay.“ Und damit scheint alles gesagt, ich stehe langsam auf und gehe weg, während du liegen bleibst und weiter in den Sternenhimmel schaust und ich fürchte, in diesem Moment glaubst du zum ersten Mal seit Langem daran, dass wir alleine im Universum sind.


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