Wenn Kuba auf seinem Sofa sitzend fernsieht, vergisst er für einige Stunden sein eigenes Scheitern. Es wird dann von den grellen Farben im Fernsehen übertönt, von geschwenkten Fähnchen auf Zuschauertribünen und bunten Bannern. In den Werbeblöcken scheint plötzlich alles möglich, wenn Slogans und Ohrwürmer aus dem Lautsprecher dröhnen. Früher dachte Kuba, in Deutschland wäre alles möglich. Seit 12 Jahren wohnt er nun in Castrop-Rauxel, in einem grauen Wohnblock aus den Siebzigerjahren. Jeden Monat zahlt er Miete für die 40 Quadratmeter, auf denen sich alles befindet, was ihm gehört, aber sein Zuhause ist das dennoch nicht. Wenn jemand Kuba fragt, wo seine Heimat ist, sagt er: „In der Nähe von Kattowitz“, weil kein Deutscher „Orzesze“ aussprechen kann und der Klang des Ortsnamens zu viele Erinnerungen weckt. Das einzige, was ihm bleibt aus seiner Heimat, ist der Polmarkt um die Ecke und die Weichheit in seiner Sprache. Er spricht die As, Es und Os immer kurz und offen und die Is und Us lang und geschlossen. Die Rs rollen über seine gelben Schneidezähne. Kuba spricht alle Zischlaute samtig weich. Dabei ist nichts sonst an Kuba weich und sanft. Als er nach Deutschland gekommen ist, war das ein Neuanfang. Er wollte Zuzia und dem Kind etwas Besseres bieten. Er hatte sich vorgestellt, wie sie zu dritt eine kleine Familie sein würden, die sich Wärme schenkt und weiche Worte. In Castrop-Rauxel aber hatte kein Neuanfang auf ihn gewartet, sondern eine Sackgasse ohne Ende. Den Neuanfang hatte Zuzia sich unter die roten Nägel gerissen, als sie Kalle kennengelernt hatte. Gegen die Verheißung von Möglichkeiten hatten Kubas weiche Worte nichts ausrichten können. Sie waren zerrissen an der kantigen Härte der deutschen Sprache und den krachenden Tönen, die ihm im Rachen kratzten, bis er Halsschmerzen bekam. Also schweigt Kuba die meiste Zeit, nur im Polmarkt trauen die Worte sich noch über seine Lippen, samtig und verwaschen, wenn er bei Ewelina Tyskie, Pierogi und geräucherte Würstchen kauft. Die isst er leise vor dem Fernseher, während er mit den Fingern auf fettig glänzenden Tasten durch dröhnende Sportprogramme schaltet. Er trinkt sein Bier, spürt die Kohlensäure im Rachen perlen und schweigt, wenn ein Tor fällt. Er schaut den Spielern zu, wie sie enttäuscht die Arme in die Luft werfen, wenn sie daneben schießen und energisch ausspucken. Wenn die Menge ekstatisch grölt und feiert, zündet er sich eine Zigarette an und atmet Nikotin, aber selbst das lässt sein Herz nicht höher schlagen. Wenn das Spiel vorbei ist, raucht er eine letzte Zigarette und geht schlafen. Kuba träumt nie, er geht schlafen und wacht morgens auf, wenn sein Wecker laut in seinen Ohren kreischt.
Er hat Spätschicht, also fährt er mit dem Bus um 13 Uhr 07 zur Spedition, bei der er mit dem Gabelstapler die schweren Metallkisten hoch in den Himmel baut. Kubas Körper presst sich schwer in das abgewetzte Leder des Fahrersitzes. Unter dem Summen und Dröhnen der Motorengeräusche fährt er schweigend mit den Gabeln unter die blauen Kisten, kippt die Gabel, setzt im Halbkreis zurück und fährt zum Lagerort, wo er die Kiste hoch über sich hebt und die Metallfüße zielsicher in die Einbuchtungen der unteren Kiste stellt. Die Monotonie zieht ihm Mundwinkel und Tränensäcke lang, manchmal hebt er die Hand, wenn ein Kollege vorbeifährt und grüßt. Blickkontakt hält er nur mit den blauen Kisten vor sich. Beim Betrachten des absplitternden Lacks denkt er manchmal an das Kind und an Zuzia, denkt an ihre blauen Augen. Wenn das Metall nach dem Aufsetzen kurz schwingend klirrt, denkt er zurück an Orzesze und daran, wie Heimat klingt. Manchmal reagiert er nicht, wenn der Chef seinen Namen ruft. Nie reagiert er, wenn der Chef ihn für die gewissenhafte Arbeit lobt. In der Pause gibt es Currywurst mit Pommes Rot-Weiß von Curry-Willi. Kuba starrt in den fettigen Nebel der Fritteuse und kratzt sich den verschwitzten Nacken. Er legt die Wurst ab, in seine Handinnenfläche ist Sauce gelaufen. Er sieht zu, wie sie zäh zu seinem Handgelenk fließt, dann leckt er sie ab. Es schmeckt warm, süß und ein wenig salzig. Bis 21 Uhr 13 stapelt Kuba wie immer die Kisten und wippt mit dem Kopf ein wenig hin und her, um Entfernungen zu schätzen. Seine rechte Hand wandert routiniert von Schalthebel zu Schalthebel. Fahren, Gabel kippen, zurücksetzen, heben, abstellen, Gabel kippen, zurücksetzen, Gabel senken, nächste Kiste. Um 21 Uhr 05 fährt er zur Ladestation, um die Batterie auszuwechseln. Er fährt in die Halle und parkt seinen Stapler auf der vorgesehenen Markierung. Es riecht beißend nach Batteriesäure, die Ladegeräte summen. Er schaltet den Stapler ab, hebt sich aus dem Fahrersitz und öffnet die Batterieklappe. Er befestigt die Haken der Anschlagkette in den Ösen der Batterie und hebt sie aus dem Staplerheck. Die Batterie schwingt behäbig ein wenig von links nach rechts. Kuba schaut auf die Uhr, 21 Uhr 12, dann hört er ein schallendes Lachen. Er blickt aus der Ladestation in die Halle, wo Klaus und Tanja im Stapler sitzen und die Hälse zueinander recken. Tanja klackert mit den Staplergabeln laut auf den grauen Betonboten und gackert. Klaus schwellt die Brust an und seine Wangen glühen ein wenig. Er erzählt noch einen Witz und Tanja schüttelt sich in ihrem hellblauen Pullover, den sie über ihrem Overall trägt. Neben Kuba kommt die Batterie zum Stehen, sie verharrt in der Luft. Da sieht Kuba Siggi vom Klo kommen, in seinem zerschlissenen Overall. An den meisten Tagen kann Siggi nicht die Klappe halten, seine derben Sprüche schallen dann durch die Halle. Manchmal so laut, dass selbst Kuba sie draußen hört. Siggi überquert den Weg hinter Klaus’ Stapler, als der beschwingt vom Gespräch mit Tanja zurücksetzt. Kuba hält unwillkürlich die Luft an, als Heck auf Körper trifft. Er gibt keinen Laut von sich, als in der Halle kein Lachen zur Antwort ertönt, sondern Schreie. Wie gebannt sieht er, wie der Stapler Siggi von den Füßen reißt, sieht wie die selbstzufriedene Miene in Siggis Gesicht dem Staunen weicht. Da ist kein Begreifen in seinen Zügen, als die Räder des Staplers über ihn rollen. Kuba sieht, wie Siggis Körpermitte verschwindet unter den Reifen, sieht wie sein Arm noch vergebens nach oben zuckt. Tanja gackert nicht mehr, sie kreischt. Brüllt wie am Spieß in einem archaischen Laut, ihr Mund ein Abgrund aus Entsetzen. Klaus begreift nichts, in seinem Gesicht sieht Kuba das Verschließen sämtlicher Informationswege. Klaus kneift die Augen zusammen, aus seinem Gesicht weicht alle Farbe und sein Brustkorb sackt zusammen, als wäre er zeitgleich mit Siggi geplatzt. Klaus krümmt sich auf seinem Sitz, aber sein Fuß klebt noch sekundenlang auf dem Gaspedal. Als er endlich anhält, liegt Siggi seltsam verdreht auf dem Boden und bewegt sich nicht. Plötzlich ist alles ganz still, aus Tanjas Mund dringen keine Laute mehr, Klaus kauert starr auf dem Gabelstapler. Kuba atmet aus, das Geräusch reiht sich ein in das Summen der Ladestation und das dumpfe Vibrieren der Lagerhalle. Er ist hellwach, sein Herz rast. Er verlässt seinen Stapler, nähert er sich den anderen und geht vor Siggi in die Hocke. Siggis Körpermitte pulsiert roh unter seinem zerfetzten Overall. Kuba kann das Rosa seiner Eingeweide unter dem glänzenden Rot aufblitzen sehen und sieht zu, wie das Leben aus Siggi herausläuft. Er kann den Blick nicht abwenden. Mit beiden Händen presst er auf die Wunde, sie ist warm und weich. Er spürt das Blut heiß darunter hervorquellen. Es riecht metallisch und in Kubas Eingeweiden regt sich etwas, in seinem Innerem formt sich ein Lachen, das er nur mit Mühe zurückhalten kann. Kuba zittert. Er blickt auf, sieht das Grauen in Tanjas Augen und den Schrecken in den Gesichtern der Umstehenden. Vorsichtig tritt er zurück, als die Sanitäter herbeieilen, seine Schuhe quietschen, als er aus der dunklen Lache tritt. Das Blut hinterlässt Spuren, als er zum Aufenthaltsraum geht, um seinen Rucksack zu holen ‒ der Chef hat sie alle in den Feierabend geschickt.
Kuba lässt sich vom Bus nach Hause bringen, seine Augen bleiben auf dem Weg an allen Lichtpunkten hängen, der Motor schickt wohlige Vibrationen in seine Magengegend. Er steigt an seiner Bushaltestelle aus und geht den kurzen Weg nach Hause. Das leuchtende Schild des Polmarkts legt ihm einen roten Glanz in die Mundwinkel und Augenringe. Schweigend schließt er die Tür zu seiner Wohnung auf und setzt sich in die eingesessene Stelle seines Sofas. Lange Zeit starrt er reglos auf das matte Schwarz des Fernsehers, vor seinem inneren Auge sieht er wieder Siggis Innerstes, sieht wieder Siggis Rosarot. Er spürt wieder diese Regung in seinen eigenen Eingeweiden, sein Gehirn sendet Glücksgefühle. Er richtet seine Handflächen nach oben und bemerkt, wie sie dunkel verklebt sind. Er riecht an ihnen, atmet den metallischen Geruch tief ein. Er denkt an die tausenden Metallkisten, die er gestapelt hat, denkt an den blätternden blauen Lack, an Zuzia, an das Kind, dessen Namen er nie gekannt hat. Er denkt an Orzesze, an Ewelina und den Polmarkt. Kuba denkt an Siggis weiche Gedärme unter seiner Hand und etwas in ihm bekommt Risse und bricht auf. Es fühlt sich samtig weich in ihm an, ein Gefühl, das er verloren geglaubt hat. Kuba weint.
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